Prof. Dr. Karin Böllert (Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ), Lorenz Bahr (BAG Landesjugendämter) und Prof. Dr. Wolfgang Schröer (Bundesjugendkuratorium) äußern sich in ihrem gemeinsamen Brief zum geplanten Maßnahmenpaket des Bundes, welches die pandemiebedingten Nachteile junger Menschen ausgleichen soll. Sie betonen, dass Kinder- und Jugendliche mehr sind als Kita-Kinder und Schüler*innen, und es deswegen ein umfangreiches Maßnahmenpaket für alle Felder der Kinder- und Jugendhilfe von Bund, Ländern und Kommunen braucht.
Der Brief im Wortlaut:
Kinder und Jugendliche sind von der Pandemie sehr stark betroffen. Die Lebensphase Kindheit und Jugend ist eine besonders wichtige Lebensphase, weil in ihr die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Seit Monaten müssen Kinder und Jugendliche weitgehend ohne die so wichtigen sozialen Kontakte zu Gleichaltrigen auskommen, müssen sich permanent wechselnden Öffnungs- und Schließungsvorgaben der Kitas und Schulen anpassen, sind die Orte ihres geselligen Zusammenseins, der gemeinsam gestalteten und erlebten Freizeit, des aufgefangen Werdens jenseits ihrer Familie geschlossen, wächst ihre Zukunftsangst, fühlen sich mit ihren Bedürfnissen und Interessen nur unzulänglich wahrgenommen, wird ihr solidarisches Handeln gegenüber Schutzbedürftigen und den älteren Generationen kaum anerkannt, ist ihre öffentliche Wahrnehmung darauf reduziert, sie durch die Prognose von Lerndefiziten zu stigmatisieren. Junge Menschen und ihre Familien sind erschöpft. Und dennoch: Junge Menschen sind und wollen keine Corona-Generation sein! Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie!
Der Bund plant ein Maßnahmenpaket, mit dem pandemiebedingte Nachteile für junge Menschen ausgeglichen werden sollen. 1 Milliarde Euro für Nachhilfe der Schüler*innen ist schön und gut. Da Kinder und Jugendliche mehr sind, als Kita-Kinder und Schüler*innen, braucht es aber ein umfangreiches Maßnahmenpaket für alle Felder der Kinder- und Jugendhilfe von Bund, Ländern und Kommunen. Auch während der Pandemie müssen Kinder und Jugendliche Ferien haben, um Abstand von den Belastungen des Alltags und dem Druck der Schulerwartungen zu gewinnen. Ein solcher Abstand gelingt nicht durch die Verschulung von Ferien, sondern nur dadurch, dass alle Maßnahmen der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe gestärkt und ausgebaut werden. Eine weitere Milliarde Euro ist dafür nicht zu viel verlangt! Sie kann aber nur der Anfang für einen nachhaltigen Ausgleich der Coronafolgen sein.
Die Umsetzung eines Maßnahmenpaketes des Bundes muss sich daran orientieren, dass
- nicht nur Bildungslücken geschlossen, sondern vor allem soziale Kontakte wieder ermöglicht werden!
- die Perspektive der Rechte von Kindern und Jugendlichen gleichermaßen in die politischen Entscheidungsprozesse zur Pandemiebekämpfung einfließen!
Deshalb ist es wichtig, dass grundsätzlich alle Angebote der Kinder- und Jugendhilfe wieder geöffnet werden; nur so können Kindern und Jugendlichen wieder der Freiraum und die Entwicklungsfelder geboten werden, die sie für ein gesundes Aufwachsen benötigen. Deshalb ist es wichtig, dass in allen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ausreichend Coronatests zur Verfügung stehen, dass die Mitarbeitenden schnellstmöglich ein Impfangebot erhalten, dass es auch für die Jugendlichen und Kinder unter 16 Jahren eine Impfstrategie gibt, dass ausreichend Impfdosen zur Verfügung stehen, so dass allen, die geimpft werden wollen, auch ein Impfangebot gemacht werden kann ohne Benachteiligung einzelner Gruppen und dass die AHA+L-Regeln weiterhin konsequent in den Angeboten und Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe einzuhalten sind, was bei Trägern, Fachkräften und auch den jungen Menschen und ihren Familien auf große Zustimmung trifft.
Die Forderungen zum Maßnahmepaket:
- Es gilt die Zukunftsperspektiven der Kinder und Jugendlichen in der Schule und auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt in den Blick zu nehmen, um die entstandenen Bildungslücken durch zusätzliche Angebote an den Bildungsorten außerhalb statt während der Ferienzeiten zu schließen. Das schafft Schule nicht alleine, sondern nur in Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendhilfe!
- Vorrangig gilt es aber, allen Kindern und Jugendlichen, und damit auch denen mit Behinderung, ihre Entwicklungs- und Gestaltungsräume außerhalb formaler Bildungseinrichtungen wieder zurück zu geben und die soziale Infrastruktur des Aufwachsens als Angebotsvielfalt der Kinder- und Jugendhilfe auf kommunaler Ebene für Kinder, Jugendliche und Familien zu stärken. Solche Orte sind auch Bildungsorte, vor allem aber Bindungsorte.
- Kinder, Jugendliche und Familien haben Erholung und eine Auszeit vom Corona-Alltag dringend nötig und verdient. Auch arme Familien müssen Urlaub machen können, Freizeit- und Ferienaktivitäten sowie Familienfreizeiten müssen deshalb ausgebaut werden und niedrigschwellig genutzt werden können.
- Benötigt wird eine aufsuchende Jugendsozialarbeit, die junge Menschen im Übergang zu Ausbildung und Erwerbsarbeit persönlich unterstützt.
- Die Stärkung der Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, und damit der Kindertagesbetreuung, der Kinder- und Jugendarbeit, der Jugendverbandsarbeit, der kulturellen Jugendbildung, der Jugendsozialarbeit etc. muss in einer gemeinsamen Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen auch mit dem dazu notwendigen Geld hinterlegt werden.
- Dieses Geld muss vor Ort ohne große Bürokratie ankommen, es kann also nicht um eine zusätzliche Projektfinanzierung gehen.
- Bei der Entwicklung der Maßnahmen sind alle Kinder und Jugendlichen vor Ort mit einzubeziehen.
Quellen: Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ, Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter, Bundesjugendkuratorium