Jugend braucht mehr! – Eigenständige Jugendpolitik voranbringen und weiterdenken
Am 19.05.2021 fand die Veranstaltung im Rahmen des Fachkongresses des Deutschen Kinder- und Jugendhilfetages statt. Inhaltlich orientierte sich das Forum am aktuellen AGJ-Positionspapier " Jugend braucht mehr" (2020). Die AGJ bekräftigt darin die Notwendigkeit einer Eigenständigen Jugendpolitik und plädiert für die Weiterentwicklung und Umsetzung einer kohärenten Politik, die gute Rahmenbedingungen für die Lebensphase Jugend schafft.
Veranstaltungsrückblick
128 Teilnehmende aus Jugendhilfe, Wissenschaft, Verwaltung und Politik kamen zusammen, um Perspektiven der Jugendpolitik und die Rolle der Kinder- und Jugendhilfe als Akteurin Eigenständiger Jugendpolitik zu diskutieren. Es wurde sich darüber ausgetauscht, welche Strategien und Instrumente jugendpolitischen Handelns relevant und wirksam sind. Dabei stand auch die Rolle der Kinder- und Jugendhilfe im Fokus. Grundlage dafür war ein modernes Verständnis der Kinder- und Jugendhilfe als natürliche Partnerin bei der selbstbestimmten Durchsetzung von Interessen junger Menschen. Im Austausch wurde die thematische Bandbreite der Eigenständigen Jugendpolitik als gesellschaftspolitisches Handlungsfeld deutlich und die jugendpolitische Dimension aller Politikfelder unterstrichen.
Die Veranstaltung wurde eröffnet durch ein Gespräch mit Bettina Bundszus, Leiterin der Abteilung Kinder und Jugend im Bundesjugendministerium, über die aktuellen Entwicklungen und Ergebnisse der Jugendstrategie der Bundesregierung. Im Anschluss daran stellte Martina Reinhardt (Leiterin der Abteilung Kinder, Jugend und Sport, Landesjugendamt im Thüringer Jugendministerium) die jugendpolitischen Meilensteine der Landespolitik Thüringens vor. Prof. Dr. Andreas Walther (Goethe-Universität Frankfurt am Main) beleuchtete aus Sicht der Forschung das Verhältnis von Jugendpolitik und Jugendhilfe in Theorie und Praxis. Zur anschließenden Podiumsdiskussion war zudem Christian Kurzke (AG Eigenständige Jugendpolitik Sachsen und Studienleiter für gesellschaftspolitische Jugendbildung, Evangelische Akademie Sachsen) eingeladen. Die vier Vertreter*innen aus Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung sowie der Wissenschaft gingen im anschließenden Austausch auf die zukünftigen Perspektiven der Eigenständigen Jugendpolitik ein.
Im Folgenden findet sich ein kurzer Einblick in die Veranstaltung mit einer Zusammenfassung der Beiträge, Diskussionen und Erkenntnisse.
Bettina Bundszus, Leiterin der Abteilung Kinder und Jugend im Bundesjugendministerium
Bettina Bundszus betonte die kontinuierliche und erfolgreiche Arbeit einer Eigenständigen Jugendpolitik auf Bundesebene. Aus Sicht des Bundesjugendministeriums ist es durch die Jugendstrategie gelungen, für das Thema Jugend zu sensibilisieren und ressortübergreifend viel anzustoßen, was über die aktuelle Legislaturperiode hinaus Wirkungen entfalten wird. Außerdem wurde das Jugendbudget mit 1 Million Euro, welches Jugendliche für eigene Projekte nutzen werden, als positives Beispiel erwähnt. Die Absenkung des Wahlalters auf 16 ist zudem auf allen Ebenen ein wichtiges Vorhaben aus Sicht des Bundesjugendministeriums.
#JugendpolitikMachen
Im Anschluss an das Gespräch beleuchtete ein von der Arbeitsstelle Eigenständige Jugendpolitik produzierter Kurzfilm zwei Beispiele für konkretes jugendpolitisches Engagement: den Landesjugendkongress in Schleswig-Holstein sowie das jugendpolitische Programm Sachsen-Anhalts. In der Langfassung des Films, welche am 18. Mai im Rahmen eines DJHT-Messeforums präsentiert wurde, wird auch die Jugendstrategie "JES" aus Rheinland-Pfalz, die Steuerungsgruppe Eigenständige Jugendpolitik aus Trier sowie das Projekt #myvision aus dem Landkreis Rosenheim vorgestellt.
Martina Reinhardt, Leiterin der Abteilung Kinder, Jugend und Sport, Landesjugendamt im Thüringer Jugendministerium
Frau Reinhardt gab einen Einblick in die Aktivitäten im Land Thüringen. Durch die Landtagsbeschlüsse 2017 und 2019 zur Eigenständigen Jugendpolitik konnten u.a. ein Lebenslagenbericht Jugend und eine ressortübergreifende Landesstrategie Mitbestimmung etabliert werden. Außerdem wurde ein Interministerieller Arbeitskreis Mitbestimmung ins Leben gerufen. Konkrete Veränderungen zu mehr Jugendmitbestimmung wurden u.a. im Kinder- und Jugendhilfe-Ausführungsgesetz, in der Kommunalordnung sowie im Schulgesetz eingeführt, zahlreiche Mitbestimmungsprojekte und -formen werden gefördert. Auf Regierungsebene wurde zum Zeitpunkt der Veranstaltung der Kabinettsbeschluss zur Einführung eines Jugend-Checks auf Landesebene vorbereitet. Am Beispiel Thüringens wurde deutlich, welche konkreten Rahmenbedingungen es für mehr Jugendmitbestimmung auf Landesebene geben kann.
Die vollständige Präsentation dazu findet sich hier.
Prof. Dr. Andreas Walther, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Herr Professor Walther beschrieb das ursprüngliche Verständnis von Jugendhilfe als geprägt von paternalistischer Tradition, defizitorientierter Perspektive und asymmetrischen Beziehungen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen. Dies habe sich zwar mittlerweile aufgeweicht, sei aber immer noch wirkmächtig. Er verdeutlichte die Gefahr, dass sich die Eigenständige Jugendpolitik auf der Suche nach institutionellen Nischen aufreiben könnte. Zudem lud er dazu ein, Anregungen aus dem internationalen Vergleich in Deutschland aufzunehmen. Als Beispiele führte er hierzu niedrigschwellige Beteiligungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene an, beispielsweise ein „Macht- und Wohlfahrtsgesetz für junge Menschen“ (Schweden) sowie ein elternunabhängiges, nicht rückzahlbares Bildungsgeld (Dänemark). Abschließend ermutigte er die Eigenständige Jugendpolitik offensiver zu denken – u.a. mittels Kritik und Vetorecht gegenüber anderen Politikfeldern, Anerkennung konflikthafter Teilhabeansprüche, Unterstützung offener Jugendeinrichtungen und Grundeinkommen im Übergang im Sinne einer Sozialpolitik des Jugendalters. Aus ihrem Selbstverständnis heraus kommt der Jugendhilfe hier eine wichtige Rolle als Anwältin junger Menschen zu.
Die Präsentation dazu findet sich hier.
Nach den beiden Präsentationen wurden die Teilnehmenden gefragt, was sie mit der Eigenständigen Jugendpolitik in ihrem Arbeitskontext verbinden. Bei den Antworten wurde die zentrale Rolle von Jugendbeteiligung sehr deutlich, aber die Fülle von unterschiedlichen Antworten zeigte auch die Vielfalt von Eigenständiger Jugendpolitik in unterschiedlichen Arbeitszusammenhängen.
Auf die Frage, welche Akteur*innen aus Sicht der Teilnehmenden Schlüsselpositionen bei der Ausgestaltung von Umsetzungsprozessen einnehmen, landeten Jugendliche, Fachkräfte und Politik deutlich vor den weiteren Antwortoptionen Verwaltung und Zivilgesellschaft.
Podiumsdiskussion
In der anschließenden Diskussion betonte Christian Kurzke, dass es auch aus seiner Sicht maßgeblich um die Partizipation junger Menschen gehen muss, damit Eigenständige Jugendpolitik Wirkung entfaltet. Zudem müssten Entscheidungen in Politik und Verwaltung zu jugendrelevanten Themen ressortübergreifend gefällt werden. Häufig sei Eigenständige Jugendpolitik noch mit Labels wie „Experimentierraum“ und „Modellcharakter“ versehen – davon müsse man sich lösen und Eigenständige Jugendpolitik verstetigen. Er erwähnte, dass die immer noch vorherrschende Unterscheidung nach vermeintlich freiwilligen und verpflichtenden Aufgaben im Förderrecht, was in Politik und Verwaltung zu Priorisierungen führe, meistens hinderlich sei und einen Schwerpunkt auf klassische Bildungsorte wie Schule und Kindertagesstätten zur Folge hätte. Mit Blick auf die Coronapandemie kritisierte er, dass die Eigenständige Jugendpolitik sich als nicht krisenfest erwiesen hat und hier schnellstmöglich die Interessen und Bedürfnisse junger Menschen wieder politisch Berücksichtigung finden müssen. Zudem erinnert er daran, wie viel Verzicht gerade die Jugend in der Pandemie geübt habe.
Frau Bundszus hob hervor, dass sich am Beispiel Thüringen gut erkennen ließe, welche Hebel im Zusammenspiel miteinander in Bewegung gebracht werden müssen, um jugendpolitische Strukturen zu verändern. Sie verwies darauf, dass die Bundes- und Landesjugendministerien sich regelmäßig austauschten über unterschiedliche Herangehensweisen. Beeindruckt zeigte sie sich davon, dass es in Thüringen gelungen ist, die Förderhöhe im Jugendbereich dynamisch wachsen zu lassen. Offen blieb, wie es besser gelingen kann, Schule und Jugendarbeit noch besser zusammen agieren zu lassen – hier gehe es auch um in Schulgesetzen verankerte Mitbestimmung.
Martina Reinhardt berichtet auf Nachfrage des Publikums von Herausforderungen, die aus Sicht des Ministeriums überwunden werden mussten, beispielsweise im Bereich Schule. Das entscheidende Momentum für die Reformen in Thüringen war der politische Wille im Landtag, der parteiübergreifend von vier Parteien getragen wurde.
Professor Dr. Andreas Walther lenkte den Blick auf die politische Konstellation in Thüringen, die die nötigen Mehrheiten für strukturelle Veränderungen organisieren konnte. Zudem ging er auf die Frage aus dem Publikum ein, welche Einschränkungen die selbstorganisierten Jugendzentren in den letzten Jahren hinnehmen mussten und führte Schwierigkeiten aus. Eventuell sei die Einschränkung der autonomen Zentren eine Folge eines „hidden curriculums“, welches Jugendlichen nicht mehr Freiräume zugestehen will als Erwachsenen. Dies werfe die Frage auf, welche Form von Beteiligung an Gesellschaft politisch gewollt sei und dass dies in den 1970er/80er Jahren in Westdeutschland anders gewesen sei als heute.
Resümee
Jugendgerecht.de konnte mit dem Forum zu weiteren fachlichen Diskursen zur Eigenständigen Jugendpolitik beitragen und folgte damit der von der AGJ im Positionspapier formulierten Anregung, auch in der Kinder- und Jugendhilfe weitergehende Reflexionen zur eigenen Ausgestaltung und Umsetzung jugendpolitischer Anforderungen aufzunehmen. Das Forum konnte anschaulich dafür sensibilisieren, dass sowohl den politischen Akteur*innen auf unterschiedlichen Ebenen (Bund, Länder, Kommunen) als auch den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe eine aktive Rolle bei der Umsetzung der Ziele Eigenständiger Jugendpolitik zukommt und so ein Bewusstsein für die jeweilige eigene Verantwortung schaffen.
Aktuelle soziale Herausforderungen und Veränderungen in der Lebensphase Jugend müssen in die Jugendpolitik von Bund, Ländern, Kommunen und auf europäischer Ebene einfließen. Für eine verbindliche Umsetzung Eigenständiger Jugendpolitik sollte diese strukturell und gesetzlich verankert werden und weiter als gesamtgesellschaftliche Aufgabe im Blick bleiben. Zu den Notwendigkeiten nach der Corona-Pandemie zählt einmal mehr die verbindliche Verankerung von wirksamen Partizipationsmöglichkeiten junger Menschen. Gerade in Krisenzeiten muss jugendgerechtes Handeln durch eine starke Lobbyarbeit weiterbefördert werden.
Quelle: jugendgerecht.de - Arbeitsstelle Eigenständige Jugendpolitik