Interview
Home > Eigenständige Jugendpolitik'Die Jugend ist immer großartig!' - Rückblick von Rainer Wiebusch

(13.01.2023) Rainer Wiebusch war seit 2014 im Bundesjugendministerium für die Eigenständige Jugendpolitik und für Jugendbeteiligung auf Bundesebene engagiert. Anlässlich seines Ruhestandes blickt er im Interview mit dem FORUM Jugendhilfe auf wichtige Meilensteine zurück.

Prof. Dr. Karin Böllert und Rainer Wiebusch beim Auftakt zum Nationalen Aktionsplan für Kinder- und Jugendbeteiligung, November 2022. Foto: Ronja Polzin Prof. Dr. Karin Böllert und Rainer Wiebusch beim Auftakt zum Nationalen Aktionsplan für Kinder- und Jugendbeteiligung, November 2022. Foto: Ronja Polzin
Prof. Dr. Karin Böllert und Rainer Wiebusch beim Auftakt zum Nationalen Aktionsplan für Kinder- und Jugendbeteiligung, November 2022. Foto: Ronja Polzin

Hartnäckig für eine Politik für, mit und von Jugend:
Ein Rückblick von Rainer Wiebusch

 

Als Leiter des Referats Jugendstrategie, Eigenständige Jugendpolitik war Rainer Wiebusch im Bundesjugendministerium zuständig für viele jugendpolitische Themen wie etwa Jugendbeteiligung auf Bundesebene, ressortübergreifende Jugendpolitik, Jugend-Check und Wahlalterabsenkung. Er hat maßgeblich für die Umsetzung der Jugendstrategie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) unter dem Motto „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“ im Zeitraum 2015 bis 2018 gesorgt sowie die konzeptionell-strategische Weiterentwicklung der Jugendpolitik der Bundesregierung vorangetrieben – die 2019 beschlossene Jugendstrategie der Bundesregierung ist ein Meilenstein für die Umsetzung der Grundsätze der Eigenständigen Jugendpolitik als Querschnittspolitik, die in allen Ressorts verankert ist. Das BMFSFJ hat auch in der aktuellen Legislatur die Federführung der 2018 eingesetzten Interministeriellen Arbeitsgruppe (IMA) Jugend. Zum Ende des Jahres 2022 ging Rainer Wiebusch in den Ruhestand. Im Interview blickt er auf persönliche Highlights der vergangenen Jahre zurück, spricht über aktuelle Vorhaben und gibt einen Ausblick auf eine Jugendpolitik der Zukunft.

 

Herr Wiebusch, welche Erinnerungen haben Sie an die Jugendpolitik, als sie noch nicht Eigenständige Jugendpolitik hieß?

In den 1980er- und 1990er-Jahren war ich ja in Sachen Kinderpolitik unterwegs. Der Begriff „Kinderpolitik“ war damals mehr als umstritten. „Kinder“ – das ist doch positiv besetzt. „Politik“ – doch eher das Gegenteil. Ergo: Passt nicht zusammen. Natürlich hat sich der Begriff „Kinderpolitik“ durchgesetzt. Die der damaligen Kritik zugrunde liegende Denke kommt mir auch heute noch in den Sinn, wenn ich ablehnende Haltungen wahrnehme wie „Für Scheinbeteiligung stehe ich nicht zur Verfügung“.

Bei uns im Keller liegt auch meine umfangreiche und gleichsam unvollendete Dissertation aus dem Jahr 1989 mit dem Titel Kinderpolitik – Perspektiven einer Politik für Kinder, mit Kindern, von Kindern. Die Wende kam, die Prioritäten wurden über Nacht anders gesetzt.

Zu meinem Verständnis von Kinderpolitik bzw. Jugendpolitik passen Begriffe wie nachhaltig, ganzheitlich, systemisch. Auf kohärent wäre ich auch noch gekommen. Auf eigenständig eher nicht.

Die Eigenständige Jugendpolitik ist ein wirklich gutes jugendpolitisches Rahmenkonzept. Jugend sichtbar machen, ein realistisches und positives Bild von Jugend befördern, Jugend Teilhabe und Beteiligung (ich spreche eigentlich lieber von Partizipation) ermöglichen, ebenen- und ressortübergreifend zusammenarbeiten. Dank und Anerkennung an dieser Stelle für die hervorragende Arbeit, die das Zentrum für die Entwicklung einer Eigenständigen Jugendpolitik und den Aufbau einer Allianz für Jugend in Trägerschaft der AGJ und unter Leitung von Jana Schröder geleistet hat.

Die eigenständige Lebensphase Jugend von 12 bis 27 Jahren – noch knapp 14 Millionen Jugendliche und junge Erwachsene – Tendenz sinkend, bildet die Grundlage. Die 575 Seiten des 15. Kinder- und Jugendberichts sind immer noch sehr lesenswert. Alternativ empfehle ich die knapp 100 Seiten der entsprechenden Jugendbroschüre Jugend ermöglichen, die wir gemeinsam mit der Jugendpresse Deutschland erstellt haben und die die Kernbotschaften des KJB aus Jugendsicht ansprechend gestaltet und illustriert.

Dennoch bleibt das Problem, dass die Eigenständige Jugendpolitik nicht selbsterklärend ist und damit auch nicht positiv besetzt sein kann. Für die Fachszene kein wirkliches Problem – für die Kommunikation außerhalb der Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe, mit insbesondere Journalist*innen („verstehe ich nicht, dauert zu lange, was bedeutet das konkret…“), schon.

So ist dann die Jugendstrategie des BMFSFJ für die Jahre 2015 bis 2018 entstanden mit dem Titel Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft. Manuela Schwesig wollte „vom Reden zum Handeln“ kommen. Die Strategie steht für planvolles Handeln. Und wer wollte denn was gegen eine „jugendgerechte Gesellschaft“ einwenden! Der mit einigem Aufwand betriebene Prozess Jugendgerechte Kommunen hat sich gelohnt, die Erfahrungen werden jetzt auch den anstehenden NAP für Kinder- und Jugendbeteiligung bereichern.

Wichtig: Nicht selten wurde gerade aus Kommunen berichtet, dass durch die Jugendstrategie des BMFSFJ Diskussions- und Entscheidungsprozesse positiv beeinflusst wurden. Akteure hatten es leichter, Themen zu setzen. Politik und Verwaltung wurden selber aktiv oder waren offener für Aktivitäten für Jugend.

Was sind Ihre drei Highlights der letzten elf jugendpolitischen Jahre?

JugendPolitikTageJugendcheckJugendstrategie der Bundesregierung. Ich wollte mit der Jugendstrategie des BMFSFJ – natürlich – in die Hauptnachrichten. In Anlehnung an medienwirksame Events zum Weltkindertag, die ich in einem anderen beruflichen Leben verantwortet hatte, entstand die Idee der JugendPolitikTage (JPT): vor dem Brandenburger Tor ein Jugendforum (temporärer Zeltbau) als Ort für den Dialog Jugend – Politik, medienwirksam vor symbolträchtiger Kulisse. Leider war die reflexartige Abwehrreaktion des Bezirksamtes Mitte („Wenn das jeder macht“) unüberwindlich. Wir bekamen immerhin als Ersatzlocation den Washingtonplatz vor dem stark frequentierten Hauptbahnhof und in Sichtweite von Bundeskanzleramt und Deutschem Bundestag. Auch nicht schlecht. 2017 gestartet, 2019 stark verbessert, im Jahr 2021 mit enormer Promidichte (Merkel mit „Daumen hoch“, Seltenheitswert). Ergebnisse flossen in die Entwicklung der Jugendstrategie ein, kamen auf die Agenda der IMA Jugend.

Vom 11. bis 14. Mai 2023 finden die JPT im Haus der Kulturen der Welt und im Paul-Löbe-Haus statt. 1.000 junge Menschen, zugleich Bundestreffen Kinder- und Jugendparlamente. (Ich bin dann an der Algarve…)

Im Koalitionsvertrag für die 18. Legislaturperiode stand: „Wir werden gemeinsam mit den Jugendverbänden einen Jugend- Check entwickeln, um Maßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit den Interessen der jungen Generation zu überprüfen.“

Caren Marks, als Parlamentarische Staatssekretärin über viele Jahre jugendpolitisches Zentrum im BMFSFJ, legte mir dieses Vorhaben besonders ans Herz. Kann es mehr Motivation geben? DBJR und BMFSFJ bildeten eine AG, in der auch die AGJ, das DJI, der BJK-Vorsitzende und das Deutsche Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung (FÖV) mitwirkten. Im Ergebnis ist ein Prüf- und Sensibilisierungsverfahren entstanden, das für den Bereich der Gesetzesfolgenabschätzung in Bezug auf Jugend als „Weltmarktführer“ bezeichnet werden kann. Das ist nicht meine Erfindung, den Begriff haben – völlig zu Recht – die Kolleginnen des Kompetenzzentrums Jugendcheck in Trägerschaft des FÖV geprägt. Aktuell gibt es einen Landes-Jugendcheck in Thüringen, auf der Agenda steht er in Niedersachsen, NRW, Berlin und im Saarland. Und auf EU-Ebene (Youth Test).

Im Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode stand: „Wir (wollen) die Eigenständige Jugendpolitik weiterführen und eine gemeinsame Jugendstrategie der Bundesregierung entwickeln.“ Im Oktober 2018 wurde die Interministerielle Arbeitsgruppe (IMA) Jugend eingesetzt. Die entwickelte die Jugendstrategie und erarbeitete die Grundlagen für den Kabinettsbeschluss, der nach nur 14 Monaten am 3. Dezember 2019 erfolgte. Der Prozess wurde begleitet vom zivilgesellschaftlichen Beirat und – natürlich – unter bestmöglicher Beteiligung von Jugend.

Neun Handlungsfelder und Jugendgerechte Kommunikation als Querschnittsaufgabe. War schon recht ambitioniert. Franziska Giffey hatte der Kanzlerin am Rande einer Kabinettssitzung vorgeschlagen, die Jugendstrategie gemeinsam mit Jugendlichen zu präsentieren. Die spontane Zusage löste insbesondere im Kanzleramt und den B-Häusern (also den unionsgeführten Ministerien) eine hohe Motivation aus, das Vorhaben Jugendstrategie zum Erfolg zu bringen. Nach der Beschlussfassung im Kabinett und der Präsentation waren tatsächlich einige Häuser der Meinung, dass der Koalitionsvertrag damit erfüllt gewesen sei – die Jugendstrategie sei ja nun entwickelt. Es setzten sich aber hartnäckige Kräfte durch, die den Koalitionsvertrag anders interpretierten: Nach der Entwicklung muss die Umsetzung folgen, sonst bliebe das doch gänzlich folgenlos und dies könne nicht dem Geist des Koalitionsvertrages entsprechen.

Das waren die drei Highlights aus den letzten acht Jahren, die Zeit davor kann ich ja nicht aus eigener Anschauung würdigen. Und weil ich sozusagen drei Jahre gespart habe, darf ich noch ein Mega-Highlight ergänzen…

Natürlich darf das jugendpolitische Jahrhundertereignis Wahlalter 16 für die Wahlen zum Europäischen Parlament nicht fehlen! Im Frühjahr 2024 dürfen 16- und 17-Jährige das EP wählen. Beschlossen vom Deutschen Bundestag am 10.11. gegen 21:43 Uhr. Großartig. Dafür hatte die Ampelkoalition die erforderliche einfache Mehrheit. Für das, was die Ampel auch will, Wahlalter 16 für die Wahlen zum Deutschen Bundestag, braucht es eine Zweidrittelmehrheit für die Grundgesetzänderung. Im Spektrum der demokratischen Fraktionen ist Die Linke dafür, die Union dagegen.

Das alles findet nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, von engagierten Akteuren, die in den sozialen Netzwerken unterwegs sind, mal abgesehen. Wir müssen aber in die Hauptnachrichten, die Talkshows, die Magazine, die Leitmedien.

Die Union trägt immer gern das „Argument“ vor, Jugendliche könnten das nicht. Das von uns initiierte Expertenhearing Wählen mit 16 hat den Beweis erbracht, dass die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu verstehen, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese zu artikulieren (auch in Form einer selbstbestimmten und verantwortungsbewussten Stimmabgabe) typischerweise bereits im Alter von 14 ausgeprägt ist. Mit 16 dürfte also niemand ein Problem haben. Es sei denn, man/frau ist ideologisch geblendet.

Ich rufe auf: Sprecht und schreibt Bundestagsabgeordnete in den Wahlkreisen an, ermöglicht den Austausch von Argumenten, schlagt die Trommeln. Denn von allein wird es mit der Zweidrittelmehrheit nicht klappen.

Was macht Sie rückblickend auf die letzten Jahre stolz?

Dass ich mit sehr vielen engagierten und wunderbaren Menschen gemeinsam an einem Strang ziehen konnte – und zwar in dieselbe Richtung. Und dass das gemeinsame Handeln signifikant häufig zu Erfolgen, Ergebnissen führte, wie ich vorher schon ausgeführt habe.

Mit der Jugendstrategie der Bundesregierung wurde ressortübergreifendes Denken verankert – wie ist Ihnen das gelungen?

Ressortübergreifende Zusammenarbeit muss organisiert werden. Bereits in der letzten Legislaturperiode wurde zur Entwicklung der gemeinsamen Jugendstrategie der Bundesregierung eine IMA eingesetzt. Und genau das passierte auch zu Beginn der laufenden Legislaturperiode. Die Staatssekretärin des für Jugend zuständigen BMFSFJ schreibt die anderen Häuser an und erklärt, dass zur Erfüllung des Koalitionsvertrages eine IMA Jugend eingesetzt wird. Es wird um Mitteilung gebeten, wer auf Arbeitsebene das jeweilige Haus vertreten wird. Punkt. Die Frage lautet nicht, erkennt jemand, dass in seinem Ministerium jugendrelevante Entscheidungen getroffen werden und ob vielleicht jemand mitmachen möchte.

Unsere Staatssekretärin Margit Gottstein hat erstmals auch die Beauftragten der Bundesregierung zur Mitwirkung in der IMA Jugend eingeladen. Bei der konstituierenden Sitzung trägt die Staatssekretärin vor, was die Ziele für die IMA sind. Ab dann liegt das weitere Verfahren in der Hand meines Referates. Ich lade die Kolleg*innen in der Regel zu vier Sitzungen p. a. ein. Durch die wirklich gute kollegiale und vertrauensvolle Arbeit ist in den Jahren ein funktionierendes Netzwerk entstanden, der „kleine Dienstweg“ erfreut sich besonderer Beliebtheit. Und das alles funktioniert aktuell noch besser als in der letzten Legislaturperiode.

Immer mal wieder wird die Forderung laut, dass die IMA doch nicht auf Arbeitsebene angesiedelt sein sollte, sondern auf Ebene der Staatssekretär*innen, das sei doch höherwertig. Ein solches Denken kann ich nachvollziehen, jedoch zeugt es nicht von Kenntnis über die tatsächlichen Abläufe und Zusammenhänge in Ministerien. Ich sage aus Überzeugung: Die Arbeitsebene hat sich für die Herausforderungen der bisherigen Jugendstrategien bewährt.

Wie sehen Sie die Rolle der Jugendhilfe in der Jugendpolitik? Was wären Ihre drei Wünsche für die Jugendhilfe? 

Für die Jugendpolitik ist die Jugendhilfe doch Stammland. Ich wünsche mir für die Eigenständige Jugendpolitik: a) Grundsätze, Prinzipien und Leitgedanken der Eigenständigen Jugendpolitik werden in den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe noch stärker beachtet bzw. umgesetzt, b) Verbände, Träger, Akteure, Stakeholder stellen das gemeinsame Ganze noch stärker in den Vordergrund, c) noch mehr Jugendlichen wird ermöglicht, Wirksamkeit und Selbstwirksamkeit zu erfahren.

Wichtig war Ihnen auch immer der Gegenwind gegen pauschale Jugendbilder. Wie ergänzen Sie persönlich den Satz „Die Jugend von heute ist ...“?

Die Jugend von heute ist anders als die Jugend von gestern und anders als die Jugend von morgen, sie ist dabei immer großartig.

Welche Erwartungen haben Sie an die kommenden Jahre und wie sieht die Jugendpolitik idealerweise in zehn Jahren aus?

Ich persönlich kümmere mich bald noch intensiver um unsere drei Enkel (Tendenz steigend), mache mit meiner Frau Reisen (die erste an die Algarve) und schreibe ein Buch (wahrscheinlich wird es ein politischer Kriminalroman mit vielen Realitätsbezügen: Die Tote im Andachtsraum). Wie die Jugendpolitik in zehn Jahren aussehen wird, das wird das Ergebnis derjenigen sein, die das in der Zeit nach mir zu verantworten haben. Da gebe ich aus Überzeugung keine Ratschläge und ich äußere auch keine Erwartungshaltungen. Ich bin davon überzeugt, dass sich Jugendpolitik und Jugendbeteiligung auf Grundlage der Eigenständigen Jugendpolitik als Leitkonzept der Bundesregierung weiterentwickeln werden. Aber rein interessehalber werde ich mir anschauen, welche Schwerpunkte in der kommenden Legislaturperiode in der auf Dauer angelegten Jugendstrategie der Bundesregierung gesetzt werden. Aktuell ist das ja der NAP für Kinder- und Jugendbeteiligung.

Das Interview erschien zuerst in der Fachzeitschrift FORUM Jugendhilfe 4/2022 und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ veröffentlicht.