Wie sieht der Entstehungsprozess von #myvision aus?
Unser Jugendbeteiligungsprojekt #myvision hat schon einen längeren Prozess hinter sich. Gestartet ist das Projekt 2008 / 2009 im Rahmen von Jugendschutzkonferenzen, die wir unter dem Dach der Europa-Region mit unserer Nachbarkommune Kufstein in Österreich und verschiedenen Kommunen im Inntal durchgeführt haben. Expert*innen sind aufgrund von aktuellen Anlässen zusammengekommen und haben verschiedene Fragen des Jugendschutzes diskutiert. Sie haben festgestellt, dass es beim Thema Jugendschutz wichtig ist, nicht nur über Jugendliche zu reden, sondern auch mit ihnen. Daraus ist der Wunsch entstanden, mit den jungen Menschen ins Gespräch zu kommen und so hat sich die Idee eines Beteiligungsformates entwickelt. Es war sehr schnell klar, dass es gelingen muss, nicht nur mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, die sich gerne engagieren. Sondern gerade auch mit denen, die sich von solchen Formaten nicht so schnell angesprochen fühlen. Das heißt, wir wollten ein großes Spektrum von jungen Menschen erreichen. Es war uns wichtig, ein Format zu gestalten, wo junge Menschen selbst ihre Anliegen entwickeln und formulieren können. Die jungen Menschen sollten die Rolle von Expert*innen einnehmen und die Fachinstanzen und Politiker*innen als Berater*innen. Weil sie wissen, was sie beschäftigt und wo sie der Schuh drückt. Wir wollten ein Modell entwickeln, wo wir unseren Flächenlandkreis und die unterschiedlichen Kommunen einbinden konnten. Das hat dann 2014 zu geführt, dass wir mit myvision als eine landkreisweite Beteiligungskonferenz gestartet haben.
Für uns ist es sehr wichtig, dass wir ein freies Beteiligungsformat wählen mit einer hohen Form und Stufe der Partizipation, um keine Grenzen vorzugeben. So haben die Jugendlichen die Möglichkeit sich wirklich frei entfalten zu können. Wir haben den Maßstab, dass wir eine echte Beteiligung von jungen Menschen erreichen möchten. Die Bürgermeister*innen, die wir zum Ende der Konferenzen einladen und die sich die Vorschläge und Forderungen der Jugendlichen anhören, kommunizieren uns, dass sie immer wieder viel dazu lernen und unseren Ansatz sich an die Seite der jungen Menschen zu stellen wirklich positiv bewerten.
Was sind Gelingensbedingungen dafür, dass die jugendpolitische Brille in der Kommunalpolitik aufgesetzt wird?
Ich kann für den Landkreis sagen, dass wir mit den Bürgermeister*innen im guten Kontakt sind. Wir erleben ein großes Interesse, die Anliegen der jungen Menschen zu berücksichtigen. Sie versuchen dabei auch neben unseren Konferenzen aktiv zu sein, merken aber immer wieder, dass es ihnen nicht so gut gelingt, an die jungen Menschen heranzukommen. Sie sehen, dass es einen besonderen Rahmen braucht, damit junge Menschen sich angesprochen fühlen.
Kooperation ist dabei eine der wichtigen Gelingensbedingungen. Wir haben die im Gemeinderat verantwortlichen Jugendbeauftragten dabei und binden auch politisch Verantwortliche der Landkreisebene, beispielsweise den*die Landrat*in, den*die Leiter*in des Jugendamtes oder den*die Abteilungsleiterin ein. Aber auch Expert*innen außerhalb des sozialen Bereiches, wie Fachleute aus dem Bereich ÖPNV zum Thema Mobilität. Weiter vernetzen wir in die Strukturen der Jugendhilfe und der offenen Jugendarbeit, welche auch an den Konferenzen teilnehmen.
Das freie Beteiligungsformat ist eine weitere Gelingensbedingung. Wir wollen junge Menschen in die Lage versetzen, ihre Interessen selbst zu formulieren. Myvision gibt dabei keine inhaltlichen Themen vor, sondern unsere Rolle ist es zu moderieren, zu begleiten und zu ermöglichen. Das heißt, wir wissen am Anfang nie, was die Ergebnisse sind und zu welchen Themen gearbeitet wird. Das ist ein Erfolgsfaktor, weil wir junge Menschen ernst nehmen als Expert*innen ihres Lebens und ihres Anliegens. Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass die Jugendlichen merken, dass sich etwas bewegt. Junge Menschen, die mehrmals teilgenommen haben, konnten davon berichten, was sich verändert hat. Die jungen Menschen stellen ihre Ideen den Bürgermeister*innen vor und wir fragen dann, was sie von den Ideen konkret umsetzen wollen. Auf der nächsten Konferenz fragen wir dann nach, was sie wirklich umgesetzt haben. Die Jugendlichen müssen sehen, dass aus ihren Ideen auch Erfolge entstehen und sich tatsächlich etwas bewegt.
Was hat sich bisher verändert und welche zusätzlichen Akteur*innen bedarf es noch?
Wir haben zum einen die Bürgermeister*innen und die im Gemeinderat verantwortlichen Jugendbeauftragten dabei. Das ist ein wichtiger Schulterschluss, denn die Jugendbeauftragten sind sowohl vor als auch nach der Konferenz im Gemeinderat das Sprachrohr der Jugendlichen sind. Sie übernehmen nach der Konferenz die Arbeitsgruppen, um weiter mit den Jugendlichen vor Ort an diesen Themen zu arbeiten. Das ist einer der wichtigen Punkte, weil ein*e Bürgermeister*in diese Kapazitäten gar nicht hätte. Weiter dabei sind noch politisch Verantwortliche von der Landkreisebene, beispielsweise der*die Landrat*in, der*die Leiter*in des Jugendamtes und Fachkräfte der Jugendhilfe und der offenen Jugendarbeit. Diese Kooperationen sind wichtige Gelingensbedingungen. Uns ist es tatsächlich geglückt die Lust zu schaffen unter den Gemeinden in einen gesunden Wettbewerb zu gehen, um sich zu verbessern. Das hat gut funktioniert und an vielen Fragestellungen wird deutlich, dass eine Gemeinde gewisse Probleme alleine gar nicht lösen kann. Es wurde auf den Konferenzen festgestellt, dass gemeindeübergreifend gedacht und gehandelt werden muss.
Das Konzept hat sich über die Jahre weiterentwickelt. Mittlerweile wechselt sich eine eintägige Konferenz mit einer dreitägigen Konferenz ab. Wir haben gemerkt, dass wir auf den dreitägigen Konferenzen wieder nur Jugendliche erreichen, die sich trauen und die, die drei Tage weg fahren und übernachten dürfen. Damit haben wir manche Zielgruppen nicht erreicht und uns entschlossen, die Konferenzen noch niedrigschwelliger zu machen. Wir brauchen nicht nur einen Ort im Landkreis, sondern mehrere. Mit den eintägigen Konferenzen erreichen wir noch mal andere Jugendliche, da sie ein überschaubarer Rahmen sind.
Welche Aha-Erlebnisse gab es mit Jugendlichen im Politikgeschehen auf der kommunalen Ebene?
Ein Aha-Erlebnis ist immer wieder, mit welchen Ideen die jungen Menschen zu den Beteiligungskonferenzen kommen. Es macht deutlich, dass der Blick, den die jungen Menschen auf die Welt haben, oftmals ein Blickwinkel ist, den wir als Erwachsene nicht haben. Es ist eine Bereicherung für uns alle, wenn wir unseren Horizont ein bisschen öffnen und die Blickwinkel von den Jugendlichen mehr in den Fokus nehmen.
Was ist noch wichtig in der Weiterentwicklung des Projektes?
In der näheren Zukunft wollen wir schauen, was wir vor Ort fördern können in den einzelnen Kommunen und welche Möglichkeiten wir haben, die eintägigen Konferenzen noch breiter zu streuen. Uns ist wichtig, dass wir sehr niedrigschwellig bleiben und den Zugang so gestalten, dass jede*r die*der daran teilnehmen möchte auch teilnehmen kann. Bisher war die Zielgruppe von „myvision“ 14 bis 16 Jahre und unser Ziel ist es, die Zielgruppe zu erweitern und nach oben hin öffnen. Denn gerade am Übergang zwischen Schule und Beruf gibt es viel Unterstützungsbedarf. Diese Gruppe mehr in den Fokus zu nehmen und ihre Lebenswelten mitzudenken, das ist uns wichtig.
Die Gesprächspartnerinnen Michaela Truß-Bornemann und Stephanie Mohr arbeiten beim Landkreis Rosenheim in der Kommunalen Jugendarbeit.
Das Interview wurde am 19. Februar 2021 geführt. Es ist im Rahmen eines Filmprojekts von jugendgerecht.de entstanden, bei dem aktuelle jugendpolitische Entwicklungen in Deutschland portraitiert werden.