Hinsichtlich jugendpolitischer Entwicklungen und Aktivitäten sind die letzten zehn Jahre für die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ ein ereignisreicher Zeitraum gewesen. Mit Diskussionsbeiträgen, Positionierungen und insbesondere durch umfängliche Projektarbeit befasste sich die AGJ kontinuierlich mit jugendpolitischen Fragestellungen und beteiligte sich als zentrale Gestaltungspartnerin an den Entwicklungen auf Bundesebene. Zugleich unterstützte sie die Erprobung von Strategien der kommunalen Ebene und vernetzte sich mit Akteuren der Länderpolitiken. Dieses Engagement wurde getragen von dem Anspruch, die Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu verbessern und durch den Politikansatz einer Eigenständigen Jugendpolitik zu stärken. Im Folgenden sollen nicht nur die Wegmarken und Meilensteine auf diesem Weg zur Sprache kommen, sondern auch einer möglichen Vision für die Weiterentwicklung der Eigenständigen Jugendpolitik nachgespürt werden.
1. Politik für Jugend! – Wegmarken der Eigenständigen Jugendpolitik
Mit der Durchführung einer Nationalen Konferenz „Vom Verschwinden der Jugendpolitik“ 2007 und einer zweiten Nationalen Konferenz Jugendpolitik zum Thema „Übergänge gestalten“ 2008 wollte die AGJ den Blick der Fachwelt verstärkt auf eigenständige jugendpolitische Konzepte und Förderprogramme lenken, unter anderem mit dem Ziel einer verbesserten beruflichen und sozialen Integration benachteiligter junger Menschen. 2008 und 2009 hat die AGJ zudem in Positionspapieren auf die Notwendigkeit einer eigenständigen jugendpolitischen Profilbildung auf nationaler Ebene hingewiesen.
Zugleich bezog auch das Bundesjugendkuratorium mit der Forderung nach einer Kohärenten Jugendpolitik klare Position. In der 2009 veröffentlichten Stellungnahme „Zur Neupositionierung der Jugendpolitik – Notwendigkeit und Stolpersteine“ werden vier Typen von Jugendpolitik benannt und gleichzeitig deutlich gemacht, dass „die Notwendigkeit einer eigenständigen, auf die Lebensphase und das Strukturmuster Jugend bezogenen Jugendpolitik“ besteht (vgl. Bundesjugendkuratorium 2009, S. 23). Diese Jugendpolitik muss im Sinne einer kohärenten Jugendpolitik die in der Stellungnahme benannten zeitlichen, sachlichen und operativen Dimensionen berücksichtigen.
Der Koalitionsvertrag der 17. Legislaturperiode formulierte die Ziele einer „eigenständigen Jugendpolitik, starken Jugendhilfe und starken Jugendarbeit, die junge Menschen teilhaben lässt und ihre Potentiale fördert und ausbaut“. Dies wurde in der Fachwelt als Abkehr vom bisherigen Fokus auf die Problem- bzw. Benachteiligtengruppen gedeutet. Als dann nach diesem Bekenntnis auch ein konkreter Prozess der Entwicklung einer Eigenständigen Jugendpolitik initiiert wurde, war der Anspruch, die Lebenslagen und Interessen aller jungen Menschen zu berücksichtigen, noch erkennbarer.
Nachdem 2009 der Begriff einer Eigenständigen Jugendpolitik mit dem Koalitionsvertrag der Regierungsparteien etabliert und zu einem eigenen Themenfeld gemacht wurde, beförderte die AGJ mit Aktivitäten und Vernetzungsanlässen dessen Weiterentwicklung und den Diskurs im jugendpolitischen Raum und der Fachwelt der Jugendhilfe. Dabei wurde deutlich, dass die Fachdebatten in der Kinder- und Jugendhilfe auf eine kohärente Politik für junge Menschen drängen. Als vordringlich zu bearbeitende Themenfelder wurden dabei Jugendarmut, Übergänge in Beruf und Ausbildung, Anerkennung non-formalen und informellen Lernens, Interkulturalität, Integration und Inklusion sowie Zeitautonomie Jugendlicher und junger Erwachsener benannt.
Entwicklung der Eigenständigen Jugendpolitik
Im Jahr 2010 hat sich die AGJ zum Vorhaben der Bundesregierung, eine „eigenständige Jugendpolitik“ zu fördern, positioniert. 2011 dann wurde das Zentrum Eigenständige Jugendpolitik begründet, welches bis 2014 das Ziel verfolgte, die Debatten und Akteure zu bündeln und einen gemeinsamen Entwicklungsprozess zur Begriffsbestimmung umzusetzen. Dabei konnte eine Jugendpolitik konzeptualisiert werden, die Jugend in der Vielfalt ihrer Lebenswelten, Bedürfnisse und Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellt und zum Ausgangspunkt ihres Wirkens macht. Hierzu wurden neben thematisch gerahmten Zielstellungen auch Leitlinien und Grundlagen für eine Eigenständige Jugendpolitik erarbeitet. Demnach soll eine Eigenständige Jugendpolitik gewährleisten, dass jungen Menschen möglichst gleiche Startchancen auf ein selbstbestimmtes Leben eröffnet werden und eine Atmosphäre der Wertschätzung für das Engagement von Jugendlichen entsteht. Die vielfältigen Lebens- und Problemlagen junger Menschen, ihre Bedarfe an Zeiten und Räumen, an Beteiligung und Anerkennung werden sichtbar. Deutlich wurde, dass es einer Kooperation unterschiedlicher Akteure der Jugendpolitik bedarf, um den im Entwicklungsprozess definierten Zielstellungen gerecht zu werden.
Betrachtung der Lebenslagen Jugendlicher durch die Wissenschaft
Ein weiterer Anlass, sich mit dem Erfordernis einer Weiterentwicklung von Jugendpolitik und dessen Zeitgeist auseinanderzusetzen sind die Jugendberichte der Bundesregierung. Die Rolle des Themenfeldes Jugendpolitik selbst spiegelte sich in den vergangenen Jahrzehnten darin äußerst unterschiedlich. Während das Thema im 5. Bericht 1980 eher eine untergeordnete Rolle spielte, wurde Jugendpolitik im 8. Kinder- und Jugendbericht 1990 mit dem Anspruch einer Querschnittspolitik beleuchtet. Der 11. Jugendbericht griff dann 2002 das Konzept einer Lebenslagenpolitik auf. Der 14. Jugendbericht, der 2013 die Notwendigkeit einer Wiederentdeckung der Jugendpolitik beschreibt, machte auf den Profilverlust der Jugendpolitik beispielsweise durch politische Schwerpunktsetzungen etwa im Bereich der Kinderbetreuung oder der Schulpolitik aufmerksam. Damit knüpfte die Sachverständigenkommission an die Diskussionen der Fachwelt an und benannte vielschichtige Herausforderungen für den neuen Politikansatz einer Eigenständigen Jugendpolitik, der im Bericht auf ausdrückliche Zustimmung trifft. Der 15. Kinder- und Jugendbericht untersuchte Lebenslagen und Alltagshandeln Jugendlicher und junger Erwachsener sowie die Rahmenbedingungen für ihr Aufwachsen. Unter dem Leitmotiv "Jugend ermöglichen“ wurde deutlich, dass Jugendliche und junge Erwachsene für die Bewältigung der Kernherausforderungen Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositionierung die Unterstützung und Rahmung durch Politik und Gesellschaft benötigen. Höchst selbstverständlich liegt dem Bericht die Überzeugung zugrunde, dass das Jugend- und junge Erwachsenenalter eine eigenständige Lebensphase mit besonderen Herausforderungen ist. Aufgrund der Erkenntnisse und Berichtsempfehlungen bekannte sich die Bundesregierung 2017 erneut zu einer Eigenständigen Jugendpolitik, die sich an den Interessen und Bedürfnissen der Jugend orientiert. Damit wurde eine Konkretisierung der Eigenständigen Jugendpolitik auf Bundesebene weiterbefördert, deren Entwicklungsprozess derzeit beständig vorangetrieben wird.
Transfer und Umsetzung der Eigenständigen Jugendpolitik
Die AGJ knüpfte unterdessen an die Erkenntnisse des Zentrums für Eigenständige Jugendpolitik an und richtete Ende 2014 die Koordinierungsstelle „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“ ein. Als Gestaltungspartner der gleichnamigen Jugendstrategie des BMFSFJ war die AGJ dabei mit dem Anliegen gestartet, die Grundsätze der Eigenständigen Jugendpolitik in die Fläche zu bringen und kommunale Strategien für mehr Jugendgerechtigkeit zu erproben und zu begleiten. Dazu wurde der bundesweite Prozess „Jugendgerechte Kommunen“ initiiert, der 2015 bis 2018 sechzehn Referenzkommunen aus ganz Deutschland bei der Entwicklung von Zielen und Konzepten begleitete. Dabei konnten wichtige Gelingensbedingungen für jugendgerechtes kommunalpolitisches Handeln aufgezeigt werden, die in der Publikation „16 Wege zu mehr Jugendgerechtigkeit“ weiterhin Verbreitung finden.
Neben der kommunalen Ebene unterstützte die Koordinierungsstelle zudem die Entwicklungen der Jugendpolitik auf Bundesebene und insbesondere die Umsetzung der Jugendstrategie mit ihren Einzelvorhaben, etwa dem Jugend-Check oder der Erprobung von Jugendbeteiligung an Bundespolitik. Auch dabei war die Weiterbeförderung einer Eigenständigen Jugendpolitik handlungsleitend für die AGJ. Die Koordinierungsstelle vernetzte zudem die jugendpolitischen Akteure, Wissenschaft, Länder und Zivilgesellschaft in einem Planungsstab und beförderte fachliche Diskussionen. Bei der Zwischenbilanz der Jugendstrategie im Rahmen eines Fachforums auf dem Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag 2017 wurden Leerstellen und jugendpolitische Herausforderungen deutlich benannt. Dazu lässt sich resümierend festhalten, dass eine Eigenständige Jugendpolitik mit dem Ziel einer jugendgerechten Gesellschaft eine gemeinsame Aufgabe darstellt, die viele aktive und zugewandte politische und gesellschaftliche Akteure, insbesondere auch außerhalb der Jugendhilfe, benötigt. Das Plädoyer für einen ressortübergreifenden Anspruch wurde hier ebenso herausgearbeitet. Auf der Konferenz zu Bilanz und Perspektiven im September 2018 brachte die Koordinierungsstelle noch einmal alle involvierten Akteure der Jugendstrategie zusammen, um den Stand aktueller jugendpolitischer Debatten auszutauschen. Große Hoffnungen wurden hier zudem auf die gemeinsame Jugendstrategie der Bundesregierung gerichtet, deren Beginn für das Jahresende 2019 angekündigt wurde und in der erstmalig ein ressortübergreifendes Bekenntnis zur gemeinsamen Jugendpolitik auf Bundesebene erwartet wird. Seit Beginn des Jahres 2019 arbeitet bereits eine interministerielle Arbeitsgruppe Jugend an den Details der neuen Jugendstrategie.
Vernetzung und Verbreitung: Arbeitsstelle Eigenständige Jugendpolitik
Zum Zeitpunkt des 70. Gründungsjahres der AGJ tritt nun die Arbeitsstelle Eigenständige Jugendpolitik auf den Plan, mit dem die AGJ den Mitgestaltungswillen und die Weiterführung der Eigenständigen Jugendpolitik bekräftigen will. Das dreijährige Projekt „jugendgerecht.de – Arbeitsstelle Eigenständige Jugendpolitik“ befasst sich gemeinsam mit den Strukturen der Jugendhilfe mit der Weiterentwicklung der Eigenständigen Jugendpolitik. Neben Angeboten zur Information, Vernetzung oder Beratung verfolgt die Arbeitsstelle auch das Ziel, die Sichtbarkeit und das Engagement für das Thema zu stärken. Dabei kommen alle Ebenen in den Blick. Denn insbesondere auf Länderebene hat sich die Eigenständige Jugendpolitik im letzten Jahrzehnt verschiedentlich etabliert und wurde unter Berücksichtigung landesspezifischer Bedarfe weiterentwickelt. Sie wurde dabei nicht nur in Förderprogrammen aufgegriffen, sondern auch zur Entwicklung eigener Landesstrategien herangezogen, zur Rahmung von jugendpolitischen Maßnahmen, Beteiligungsprojekten und Anhörungsverfahren genutzt oder etwa durch deutliche Positionierungen in Landtagsbeschlüssen verankert.
Festzuhalten ist, dass diese Entwicklungen bundesweit an Unterstützung gewinnen und parteiübergreifende Bekenntnisse zu einer modernen Jugendpolitik bestehen.
2. Eigenständige Jugendpolitik – eine Vision für 2029?
Wagen wir einen Blick in die Zukunft – wo geht es hin mit dieser Eigenständigen Jugendpolitik, die zusehends aus den fachpolitischen Kreisen hinaus Wirkung entfaltet? Wie verändert sich Politik und wie verändern sich die Lebenswelten von Jugendlichen in den kommenden zehn Jahren? Wir wagen einen Blick in die Kristallkugel für das Jahr 2029, um mögliche oder unmögliche Visionen für eine erfolgreiche Umsetzung der Eigenständigen Jugendpolitik zu zeichnen.
Vision I: Ressortübergreifende Arbeitsgruppen, fachpolitische Stärkung
Mit der gemeinsamen Jugendstrategie der Bundesregierung wird eine langjährige Forderung Eigenständiger Jugendpolitik umgesetzt – das ressortübergreifende Handeln im Interesse Jugendlicher. Im Jahr 2029 wird das Bundesjugendministerium als federführendes Ressort die zeitlich nicht befristete Jugendstrategie der Bundesregierung endgültig etabliert haben und beständig vorantreiben. Wo anfangs noch vorsichtige Skepsis im Raum stand, ist mittlerweile Vertrauen zwischen den Verantwortlichen der verschiedenen Arbeitsebenen gewachsen. Das vereinfacht Absprachen und beschleunigt die Arbeit an der Umsetzung. In verschiedenen thematischen Arbeitsgruppen wurde so in den letzten zehn Jahren die Wohnsituation von Auszubildenden und Studierenden insbesondere in Großstädten verbessert, während sich der ländliche Raum über die Entwicklung und Unterstützung innovativer Lösungen im Bereich Mobilität und Gesundheit freut. Dank flächendeckenden Breitbandausbaus und Fortschritten im Bereich E-Learning gibt es nunmehr beispielsweise weniger Druck, für Ausbildung und Berufseinstieg in die urbanen Räume zu ziehen.
Die jugendpolitische Federführung liegt im Jugendressort, welches nicht nur die ressortübergreifenden Arbeitsgruppen koordiniert, sondern auch innerhalb des eigenen Ministeriums zur Vernetzung der zuständigen Referate beiträgt. Dies hat nicht nur Einfluss auf die Themen: Immer mehr Ressorts organisieren eigene Jugendbeteiligungsmaßnahmen, um mit jungen Leuten gemeinsam bessere Maßnahmen zu entwickeln und Gestaltungsmacht abzugeben. Die Jugendlichen und die Ministerien werden dabei professionell unterstützt und begleitet, die wirksame Aufnahme der Ergebnisse der Beteiligung in Gestaltungsprozesse wird transparent kommuniziert und bleibt somit nachvollziehbar.
Die Befassung mit der jugendlichen Perspektive führt auch zu einer veränderten Wahrnehmung durch die Politik. Die hohe Innovationskraft Jugendlicher wird als Ressource verstanden, welche konstruktiv aufgegriffen wird. Ihren Wissens- und Erfahrungsvorsprung setzen die Erwachsenen nicht ein, um Ideen abzublocken, sondern um jugendliche Anliegen aufzugreifen und für Politik und Verwaltung nutzbar zu machen.
Eine Jugendbeauftragte der Bundesregierung, welche als unabhängige Stelle dafür zuständig ist, Anliegen und Beschwerden Jugendlicher aufzugreifen und sich an den geeigneten Orten für jugendliche Interessen einzubringen, legt einen positiven Jahresbericht vor. Durch die Präsenz auf Social-Media-Plattformen konnte sie in der Zielgruppe ihre Bekanntheit steigern, und der Umgang mit den jugendlichen Anliegen wird von den Jugendlichen ebenfalls zunehmend positiv eingeschätzt.
Auch in einzelnen Bundesländern werden die ressortübergreifenden Initiativen weiter intensiviert und ausgebaut. Und auch immer mehr Kommunen haben ihre Prozesse in der Verwaltung auf mehr Jugendgerechtigkeit ausgerichtet, um für ihre junge Bevölkerung attraktiv zu bleiben.
Vision II: Ausweitung der Jugendberichterstattung
Die intensivere Befassung mit dem Thema Jugend führt auch dazu, dass der Bedarf an Informationen über die Zielgruppe gestiegen ist. Die Lebenslagen Jugendlicher werden intensiver und differenzierter beforscht denn je. Neben allgemeinen Berichten werden insbesondere die Jugendlichen, die von Mehrfachdiskriminierungen betroffen sind, in den Blick genommen, um institutionelle blinde Flecken aufzudecken und fundierte Empfehlungen auszusprechen, damit sich allen Jugendlichen gute Chancen und Lebensperspektiven bieten.
Die Jugendberichterstattung in den Ländern beteiligt Jugendliche und Fachkräfte, um die quantitativen Analysen qualitativ zu unterstützen. Dabei tauschen sich die Länder und die ausführenden Institute aus, um Studiendesigns aufeinander abzustimmen und die Berichterstattung ständig weiterzuentwickeln. Das so entstehende Wissen zur Jugend wird somit vollständiger und länderübergreifend vergleichbarer. Diese Datenfülle unterstützt auch die Jugendberichte der Bundesregierung, welche eine immer wichtigere Grundlage für die Weiterentwicklung der Jugendpolitik auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene bilden.
Vision III: Selbstverständliche Beteiligung an kommunalen Maßnahmen
Seit einigen Jahren ist in allen Bundesländern die Beteiligung Jugendlicher an kommunalen Belangen, die jugendliche Lebenswelten berühren, verbindlich vorgeschrieben. In jedem Jugendamt sind Mitarbeitende in einer Vielzahl von Beteiligungsmethoden geschult, um jeweils passende Angebote zu erstellen und sowohl langfristig angelegte Perspektivprozesse als auch konkrete Beteiligungsmaßnahmen an Einzelvorhaben umzusetzen. Mit der zunehmenden Erfahrung wächst sowohl das Vertrauen in die Jugendlichen als auch die Qualität der Zusammenarbeit zwischen dem Jugendamt und den übrigen Verwaltungseinheiten. Aus Vorurteilen werden im regelmäßigen Kontakt differenziertere Wahrnehmungen über die Lebenswirklichkeiten von Jugendlichen in der Kommune.
Auch die jungen Menschen ersetzen ihre Vorurteile und Annahmen über die Politik und Verwaltung durch realistischere Einschätzungen. Sie erarbeiten sich Fachwissen zu den Themenbereichen, die sie interessieren, und treten als zunehmend kompetente Gesprächspartnerinnen und -partner auf. Nicht wenige fühlen sich ihrer Kommune stärker zugehörig als früher, und auch die Bereitschaft zum Engagement in den Stadt- und Gemeinderäten nimmt zu. Die örtlichen Parteien und Vereine erleben, dass junge Menschen in ihren Strukturen mitarbeiten wollen – und dabei müssen die Organisationen auch lernen, Dinge anders zu tun als bisher.
Vision IV: Stärkere Beteiligungs- und Vertretungsstrukturen
In den letzten zehn Jahren seit 2019 haben junge Menschen die Vereins- und Verbändelandschaft verändert. Einige Organisationsformen sind aus den politisch organisierten Beteiligungsangeboten entstanden und haben als Jugendparlamente, Jugendforen oder Jugendbeiräte ihren festen Ort in den kommunalen Strukturen gefunden. Daneben entstehen jedoch auch thematische Gruppen unterschiedlichen Organisationsgrades auf allen politischen Ebenen, die sich noch leichter und schneller als früher miteinander vernetzen und ihre Themen voranbringen. Sie treffen auf eine politische Landschaft, die besser als 2019 mit der Dynamik und Innovationskraft Jugendlicher umgehen kann und die Impulse aufgreift, die von Jugendlichen ausgehen. Dies stärkt wiederum die jugendlichen Strukturen, die auf interessierte Gesprächspartner treffen. Wenn Jugendliche sich äußern, diagnostiziert die Politik kein Kommunikationsproblem, sondern erkennt eine inhaltliche Auseinandersetzung. Die immer besser vernetzten und qualifizierten Jugendlichen entlarven politische Nullaussagen und bleiben hartnäckig an ihren Themen dran.
Schlussfolgerung
Diese Visionen illustrieren Einzelaspekte einer möglichen zukünftigen Ausgestaltung und Umsetzung jugendpolitischer Leitlinien, Grundsätze und Ziele. Einmal mehr wird durch diese optimistischen, jedoch nur vage skizzierten Zukunftsbilder eines deutlich: dass Eigenständige Jugendpolitik ein Prozess sein muss. Ein gemeinsamer Prozess, der abhängig vom Willen, von der Haltung und von der Kontinuität vieler Akteure ist, der aber vielfältige Chancen, Wege und Gestaltungsspielräume mit sich bringt. Diese zu nutzen und zielgerichtet auszugestalten liegt in der Verantwortung von Gesellschaft und Politik gemeinsam.
3. Was heute zu tun ist – Thesen zu aktuellen Herausforderungen
Damit Eigenständige Jugendpolitik transformativ auf die Gesellschaft wirken kann, müssen heute die richtigen Entscheidungen getroffen werden.
a. Jugend-Check verankern
Der Jugend-Check überprüft die sog. Referentenentwürfe der Bundesregierung auf ihre Auswirkungen auf junge Menschen. Das Kompetenzzentrum Jugend-Check (www.jugend-check.de) begleitet in diesem Sinne die Arbeit der Bundesregierung seit August 2017 und nutzt hierfür eine umfangreiche Matrix, mit der die Auswirkungen differenziert erfasst und bewertet werden können. Im Sommer 2019 wurde die zweite Förderphase des Kompetenzzentrums gestartet. Die Aktivitäten des Kompetenzzentrums werden auch auf kommunaler Ebene und Landesebene mit großem Interesse verfolgt, zum Teil gibt es auch schon erste Adaptionen für die lokale Ebene (z. B. in Sachsen). Auf der Agenda für den Jugend-Check muss nun die rechtliche Verankerung des Instruments stehen.
Durch den Jugend-Check und die geplante gemeinsame Jugendstrategie der Bundesregierung findet ressortübergreifend eine stärkere Befassung mit den Lebenslagen Jugendlicher statt. Diese erfreulichen Entwicklungen sind der Anfang für eine grundsätzlich neue Qualität der Berücksichtigung der Interessen der jungen Generationen.
b. Beteiligung über Anhörung hinaus entwickeln
Jugendbeteiligungsmaßnahmen jenseits der kommunalen Ebene haben oftmals lediglich den Charakter von Anhörungen. Jugendliche werden zu einem mehr oder weniger weit gefassten, vorher festgelegten Thema eingeladen, damit sie ihre Empfehlungen, Forderungen oder Ratschläge erarbeiten und diese vorbringen. Pflichtbewusst wird ihnen zugehört und bestenfalls nach mehreren Monaten noch ein schriftliches Feedback der adressierten Entscheidungstragenden verfasst, doch die Mitgestaltungsmacht, die Jugendlichen zugestanden wird, ist überschaubar. Verbindliche Mitwirkungsrechte gibt es jenseits der kommunalen Ebene nicht, und die Beteiligungskonzepte sind erschreckend dünn, wenn man den Blick über die konkrete Veranstaltung hinaus richtet. Selten wird klar, wer wie bis wann mit den Ergebnissen weiterarbeitet. Ein Follow-up findet oftmals nur in Form von Berichten und Stellungnahmen statt, welche an die Jugendlichen adressiert werden. In den Konzeptionen werden nicht selten Ziele der politischen Bildung munter mit Beteiligungszielen vermischt.
Gleichzeitig finden Jugendliche öffentlichkeitswirksame Wege, ihre Themen und Anliegen vorzubringen. In der Woche vor der Europawahl 2019 wurde eine zugespitzte Kritik an der Klimapolitik der Regierung durch den YouTuber Rezo veröffentlicht. Viele der Kritikpunkte waren bereits seit fast einem Jahr durch die „Fridays for Future“-Bewegung im Wochenrhythmus in zahlreichen Orten in Deutschland und weltweit vorgetragen worden, mit beachtlichem medialen und politischen Echo – und das weitgehend außerhalb der bisherigen Beteiligungs- und Mitspracheangebote.
Der technologische Wandel ermöglicht eine neue Unmittelbarkeit in der Kommunikation und umgeht die bisherigen Gatekeeper der öffentlichen Meinung – Themen können an Parteien, Parlamenten und klassischen Medien vorbei gesetzt werden. Diesem Wandel der Möglichkeiten und dem daraus entstehenden neuen Zeitgeist müssen Beteiligungsangebote Rechnung tragen. Daher ist künftig noch genauer zwischen Angeboten politischer Bildung und Angeboten der politischen Beteiligung zu unterscheiden. Gleichzeitig ist der Stellenwert der politischen Bildung sowie einer Beteiligungspraxis in den Lebenswelten Jugendlicher zu steigern – wer schon früh Demokratie übt und die eigenen Mitwirkungsmöglichkeiten erfährt, wird später wirkungsvoll an Staat und Gesellschaft mitwirken können.
c. Ressortübergreifende Arbeit etablieren
Die Eigenständige Jugendpolitik entstand in den 2000er-Jahren aus der Diagnose des Bedeutungsverlusts der Jugendpolitik im Vergleich zu anderen Politikbereichen. Jugendliche und ihre Anliegen waren kaum politisches Thema. Mit der Entwicklung einer Eigenständigen Jugendpolitik, den Jugendstrategien des BMFSFJ und der Bundesregierung sowie der Umsetzung der EU-Jugendstrategie in Deutschland wurde das Thema Jugend innerhalb des Bereichs Kinder-, Jugend und Familienpolitik gestärkt. Jedoch wird auch außerhalb des Ressorts Jugend Politik gemacht, die jugendliche Lebenswelten beeinflusst. Es war daher von Anfang an der Anspruch Eigenständiger Jugendpolitik, nicht nur eine starke Ressortpolitik, sondern auch eine wirkungsvolle ressortübergreifende Politik für die Interessen und Belange Jugendlicher zu gestalten und umzusetzen.
Dieser Weg wird nicht zuletzt durch den Jugend-Check und die Einsetzung einer Interministeriellen Arbeitsgruppe Jugend auf Bundesebene nun beschritten. Ziel muss es sein, das Wissen um die Interessen und Bedürfnisse junger Menschen in allen Ministerien zu verbreiten, um die Auswirkungen auf junge Menschen schon bei der Erstellung der Referentenentwürfe zu berücksichtigen. Durch eine engere Zusammenarbeit über Ressortgrenzen hinweg sollte auch eine höhere Kohärenz der jugendbezogenen Politikinhalte erreicht werden, um Politik „aus einem Guss“ zu gestalten.
d. Starke Netzwerke bilden
Nicht nur die politischen Ressorts müssen sich miteinander zu Jugendthemen austauschen und gegenseitig unterstützen: Breite gesellschaftliche Netzwerke müssen jugendliche Anliegen mit ihren Ressourcen unterstützen. Die Akteure der Zivilgesellschaft verfügen über politischen Einfluss und Verständnis über das politische System und können diese Ressourcen Jugendlichen zur Verfügung stellen – denn diese haben eine hohe Innovationskraft, aber oftmals nur wenig Einblick in die politischen Abläufe. Eine besondere Rolle kommt hier Erwachsenenstrukturen mit eigenen Jugendorganisationen zu wie z. B. den Freiwilligen Feuerwehren und den Jugendfeuerwehren, den Sportverbänden, den Wohlfahrtsorganisationen, aber auch den konfessionell gebundenen Zusammenschlüssen. Dies kann aus der geteilten Überzeugung heraus geschehen, dass die Gesellschaft einerseits die Innovationskraft der Jugend benötigt, um sich den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu stellen. Andererseits benötigen Jugendliche die Unterstützung und die Angebote der Gesellschaft, um ihre Potenziale zu entdecken, zu entfalten und Verantwortung für sich selbst und die Gemeinschaft übernehmen zu können.
Auftrag an die Jugendhilfe
Die AGJ als Forum und Netzwerk der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland wird Jugendpolitik weiterhin als einen Schwerpunkt ihres vielfältigen Arbeitsfeldes im Blick behalten. Dass die Eigenständige Jugendpolitik mittlerweile aus der Nische ins Rampenlicht rücken konnte, ist die beste Voraussetzung für eine Etablierung und Verstetigung dieses Selbstverständnisses von Jugendpolitik, auch und gerade im Kontext weitreichender gesellschaftlicher Veränderungen. Dabei ist die Jugendhilfe nicht nur Wegbereiter und Wegbegleiter, sondern muss zugleich weiterhin eigene Strategien zur Umsetzung und Verankerung dieses Anspruches befördern und fordern.
Dieser Beitrag ist bereits erschienen in der Jubiläumsschrift "70 Jahre AGJ" der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ, August 2019.
Autor/-innen: Nils Rusche & Heidi Schulze