Seit 15 Jahren begleitet die AGJ als Akteurin auf der Bundesebene die Eigenständige Jugendpolitik, was waren die drei wichtigsten Meilensteine aus Sicht der AGJ-Vorsitzenden?
Es ist uns gelungen, über 15 Jahre ziemlich hartnäckig, aber auch mit großer Freude und Begeisterung daran zu arbeiten, dass die Interessen und Bedürfnisse Jugendlicher in der Politik eine Rolle spielen müssen. Der Auf- und Ausbau an Jugendbeteiligungsmaßnahmen auf allen politischen Ebenen in den letzten Jahren zeigt, dass das gehört und verstanden wurde – auch wenn es noch ein weiter Weg ist, auf allen politischen Ebenen wirkungsvolle Beteiligung umzusetzen! Ein zweiter zentraler jugendpolitischer Meilenstein ist die Jugendstrategie auf Bundesebene, mit der 2019 erstmals ressortübergreifendes Denken und Handeln auf den Arbeitsebenen aller Ministerien verankert werden konnte. Und nicht zuletzt ist es ein fortwährender Meilenstein, dass die AGJ seit 2012 mit Projekten zur Eigenständigen Jugendpolitik den Politikansatz weiterentwickelt, Akteure vernetzt und so bessere Jugendpolitik auf allen Ebenen und aktuell auch in diversen Themenbereichen mit Denkwerkstätten unterstützt. So wird klar, dass Jugendliche betroffen sind, wenn etwa Verkehrs-, Wohnungs-, Gesundheits- oder Digitalpolitik gemacht wird.
Die AGJ hat sich im Jahr 2020 mit einer klaren Position (pdf) für die Stärkung der Eigenständigen Jugendpolitik auch in den eigenen Strukturen ausgesprochen. Was sind die zentralen Aufgaben, damit dies gelingen kann?
„Die Kinder- und Jugendhilfe gestaltet die Lebensrealität junger Menschen in Deutschland maßgeblich mit und vertritt die Vielfalt der Interessen ihrer Zielgruppe im politischen Raum.“ Dieser Satz aus der AGJ-Position beschreibt, worum es geht: die eigene Rolle erkennen und Verantwortung übernehmen, für die Interessen junger Menschen eintreten, junge Menschen an der Gestaltung der Arbeit der Jugendhilfe wirkungsvoll und mächtig beteiligen. Denn die Jugendhilfe kann nicht von der Politik mehr jugendpolitisches Selbstverständnis und Jugendbeteiligung einfordern, wenn sie diese Ansprüche nicht in ihren eigenen Strukturen praktiziert und so darlegt, dass wirkungsvolle Jugendbeteiligung viele Prozesse besser macht. Ich möchte unseren Appell daher weiter bekräftigen.
Der Jugendpolitische Beirat des BMFSFJ begleitet die aktuelle Jugendpolitik, was sind dort aktuell die konkreten Erwartungen an eine gelungene Politik für die Jugend? Und wie hat sich das Arbeiten auf Bundesebene verändert, seit so viel mehr junge Menschen direkt in den jugendpolitischen Gremien der Bundesebene vertreten sind?
Erstmalig haben junge Menschen eine Stimme im Beirat und das wirkt. In jeder Sitzung – so das zur Legislaturhälfte neu beschlossene Vorgehen - wird jetzt ein Schwerpunktthema diskutiert, das zumeist von den jungen Menschen vorgeschlagen wird. Damit dringen sie mit ihren Anliegen besser durch, die Aushandlungsprozesse werden so perspektivenreicher. Solange der Beirat eher eine Aneinanderreihung von Berichtstagesordnungspunkten „älterer“ Jugendpolitiker*innen war, fühlten sich die jungen Menschen tendenziell fehl am Platze. Eigentlich war außerdem verabredet, dass BMFSFJ-seitig jeweils im Abstand von einem halben Jahr darüber berichtet wird, was aus den erarbeiteten Empfehlungen geworden ist. Mit dem frühzeitigen Ende der Legislatur entfällt das jetzt weitestgehend. Perspektivisch sollte zudem darüber nachgedacht werden, einen kinder- und jugendpolitischen Beirat beim Bundeskanzleramt anzusiedeln. Das würde dem ressortübergreifenden Ansatz der Eigenständigen Jugendpolitik am ehesten entsprechen.
Bezogen auf die konkreten Erwartungen an die Jugendpolitik sollte es im März zu einem entsprechenden Kabinettsbeschluss kommen. Daraus wird jetzt nichts mehr. Es bleibt abzuwarten, ob es gelingen wird, zumindest so etwas wie Handlungsempfehlungen oder Leitlinien einer Jugendpolitik zu veröffentlichen.
Die Sachverständigenkommission des 17. Kinder- und Jugendberichts hat für Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft Leitlinien formuliert, um die Rahmenbedingungen für das Aufwachsen junger Menschen zu verbessern. Welche Rolle kann dabei der ressortübergreifende Ansatz der Eigenständigen Jugendpolitik spielen?
Ohne ressortübergreifendes Denken und Arbeiten wird es nicht gehen! Die Jugendhilfe ist unverzichtbar für das Aufwachsen junger Menschen in Deutschland, aber sie kann – gerade vor dem Hintergrund der zahlreichen gesellschaftlichen Krisen, der zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung und der finanziellen und personellen Unterausstattung – nur gemeinsam mit anderen Politikfeldern allen jungen Menschen gerecht werden.
Ebenso wichtig wie das ressortübergreifende Arbeiten ist das ebenenübergreifende Arbeiten. Bund, Länder und Kommunen können gemeinsam große und wirkungsvolle Änderungen anstoßen – wir erleben aber auch, dass sich die politischen Ebenen durch Zuständigkeits- und Finanzierungsfragen jahrelang gegenseitig blockieren können. Nehmen wir das Beispiel der Vielfalt junger Menschen: wenn es gelänge, die Einlösung der Kinderrechte zum Maßstab des politischen Handelns zu machen und dadurch die biografische Relevanz der herkunftsbedingten Ungleichheiten zu durchbrechen, wäre insbesondere für die jungen Menschen selbst, aber auch für ihre Familien und die gesamte Gesellschaft so viel zu gewinnen! Dies aber braucht Anstrengungen im Bereich der Armutspolitik, der Bildungspolitik, im Bereich des Aufenthalts- und Staatsbürgerrechts. Der Wohnort spielt derzeit ebenso eine Rolle, hier sind dann sozialräumliche Strategien auf kommunaler Ebene gefordert. Die Kinder- und Jugendhilfe muss sich hier unbedingt mit ihrer Expertise einbringen, um die spezifischen Bedarfe und Interessen Jugendlicher sichtbar zu machen und sie muss besser darin werden, für die Rechte junger Menschen einzutreten.
Zur Person
Senior-Prof. Dr. Karin Böllert, Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik, ist Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ. Sie lehrt und forscht an der Universität Münster und ist u. a. Co-Vorsitzende des jugendpolitischen Beirats des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Für die Berichtskommission des 17. Kinder- und Jugendberichts (2024) hatte sie den Vorsitz inne.