Interview
Home > Eigenständige JugendpolitikInterview mit Beate Walter-Rosenheimer (Bündnis 90/Die Grünen)

Im Rahmen unserer Interviews zur Bundestagswahl hat die jugendpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag unsere Fragen beantwortet. Beate Walter-Rosenheimer gehört dem Bundestag seit 2012 an.

Beate Walter-Rosenheimer, MdB Beate Walter-Rosenheimer, MdB
Beate Walter-Rosenheimer, MdB

In der Pandemiesituation hat sich gezeigt, dass die Krise die besonders benachteiligten Jugendlichen auch besonders hart getroffen hat und Jugendarmut weiterhin ein großes Problem darstellt. Wie sollte dieses Thema Ihrer Meinung nach angegangen werden?

Die pandemische Lage hat uns auch in der Kinder- und Jugendpolitik schonungslos vor Augen geführt, was alles seit Jahren viel besser laufen müsste. Jedes 5. Kind, jede*r 5. Jugendliche wächst in unserem reichen Land in Armut auf. Den betroffenen Familien blieb schon vor Corona kein Spielraum für Bildung, Freizeit und gesellschaftliche Teilhabe, doch vor den Infektionsschutzbestimmungen gab es Unterstützung durch Jugendarbeit und zivilgesellschaftliches Engagement. Dann schlossen die Schulen und mit ihnen die Vereine, viele Angebote der Jugendhilfe, die Hausaufgabenhilfen und die Jugendtreffs. Corona hat die Situation der Kinder und Jugendlichen, die in Armut oder Armutsgefährdung leben, noch weiter erschwert.

Wir sagen: In unserem reichen Land darf kein Kind und kein*e Jugendliche*r von Armut bedroht sein. Denn Armut von Kindern und Jugendlichen bedeutet auch Ausgrenzung, Diskriminierung und schlechtere Bildungschancen. Jedes Kind, jede*r Jugendliche verdient unsere Unterstützung, denn Zukunftschancen dürfen nicht von der sozialen Herkunft abhängen. Daher wollen wir eine Gesamtstrategie zur Prävention und Bekämpfung von Kinderarmut entwickeln und umsetzen. Neben hervorragender Infrastruktur wollen wir Familien mit einer einfachen und gerechten Kinder- und Familienförderung stärken: der Kindergrundsicherung. Mit dieser wollen wir den Leistungsdschungel aus Kindergeld, Kinderzuschlag, Sozialgeld für Kinder und die Bildungs- und Teilhabepakete in einer Leistung zusammenfassen. Besonders einkommensschwache Familien wollen wir zusätzlich zum festen Garantiebetrag der Kindergrundsicherung durch den GarantiePlusBetrag absichern.

Nach der Schule brauchen alle Jugendlichen eine Perspektive und einen guten Start in ein selbstbestimmtes Leben. Auch bei der Suche nach einer Ausbildung wirkt Corona wie ein Brennglas: Jugendliche mit Unterstützungsbedarf geraten noch mehr als ohnehin schon ins Hintertreffen. Eine Ausbildungsgarantie ist deswegen wichtiger als je zuvor. (Antrag hier)
 

Vor allem Jugendliche, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens aufwachsen, haben häufig einen holprigen Start in die Selbstständigkeit, ins Erwachsenenleben. Das kann bis hin zu Problemen wie Wohnungslosigkeit führen. Gerade in den städtischen Ballungszentren haben junge Menschen, ohne finanzkräftige Eltern im Hintergrund, große Probleme bezahlbaren Wohnraum zu finden. Deshalb fordern wir in unserem Antrag „Sofa-Hopping ist keine Perspektive – Strategien gegen Wohnungslosigkeit bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen“ unter anderem ein nationales Aktionsprogramm zur Vermeidung und Bewältigung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit bei jungen Menschen. (Antrag hier

Während der Pandemie wurden und werden die Belange junger Menschen häufig nicht gesehen und auch nicht ausreichend berücksichtigt. Um ihre Situation zu verbessern haben wir einen Antrag vorgelegt, in dem wir konkrete Maßnahmen vorschlagen, um die Folgen der Krise für junge Menschen besser aufzufangen. Neben einem Bildungsschutzschirm wollen wir auch auf die psychosoziale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen achten. Jetzt und auch nach der Pandemie. (Antrag hier)

Welche jugendpolitischen Schwerpunkte setzt Ihre Partei für die kommende Legislaturperiode?

Im Zentrum unserer Jugendpolitik steht eines ganz felsenfest: Wir wollen gleiche Chancen für alle Kinder und Jugendlichen.
Kinder und Jugendliche müssen sich bestmöglich und frei entfalten können. Dabei haben sie ein Recht auf besonderen Schutz, Förderung und Beteiligung. Wir wollen sicherstellen, dass die Rechte und das Wohl von Kindern und Jugendlichen bei staatlichen Entscheidungen ein größeres Gewicht bekommen und maßgeblich berücksichtigt werden. Deshalb müssen starke Kinderrechte entlang der Grundprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention ins Grundgesetz. Mit einem Nationalen Aktionsplan für Kinder- und Jugendbeteiligung wollen wir sicherstellen, dass alle Kinder und Jugendlichen über ihre Rechte informiert sind und unabhängig vom soziokulturellen Hintergrund altersgerecht und niedrigschwellig Beteiligung leben können. Die Jugendarbeit spielt hierbei eine wichtige Rolle, darum wollen wir die Jugendverbände mit einem Verbandsklagerecht gegenüber Kommunen stärken.

Demokratie darf kein abstrakter Begriff sein, sondern muss immer wieder im eigenen Alltag erfahren und erprobt werden können. Werdende Demokrat*innen brauchen Mitmach- und Medienkompetenz sowie politische Bildung, die wir als Querschnittsaufgaben in Kitas, Schulen und Jugendhilfe konzeptionell und finanziell stärken. Bei allen Angeboten im Sozialraum, bei allen Bau- und Wohnumfeldmaßnahmen, die Kinder und Jugendliche betreffen, wollen wir sie auch beteiligen, ihr Wohl sichern und dies im Baugesetzbuch und im Bundesimmissionsschutzgesetz berücksichtigen.

Jugendliche und junge Erwachsene brauchen Beteiligungsmöglichkeiten auf allen politischen Ebenen. Wir setzen uns deshalb seit Jahren für eine Absenkung des Wahlalters ein.
Flankierend dazu setzen wir auf Stärkung demokratischer Kompetenzen und auf politische Bildung, in den Schulen und außerhalb. (Antrag hier)

Zur Chancengleichheit gehört natürlich auch, dass Bildungserfolg weder vom Grad der Bildung der Eltern noch von ihrem Geldbeutel abhängen darf. Gute Bildung muss das Potential haben, bestehende Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zu überwinden. Deshalb machen wir uns dafür stark, der außerschulischen und nicht-formale Bildung mehr Raum und mehr finanzielle Mittel zu geben. Abseits von starren Lehrplänen und Leistungsdruck steigert sie die Möglichkeit, eigene Talente zu entdecken und zu pflegen und sich selbst zu entfalten.
Gleichzeitig darf in einer Gesellschaft, die in der Jugend die gute Zukunft für alle sieht, kein Kind und keine*e Jugendliche*r Diskriminierungserfahrungen machen.

In der nun zu Ende gehenden Legislaturperiode gab es erstmals eine ressortübergreifende Jugendstrategie der Bundesregierung. Wie würden Sie die Jugendstrategie in der kommenden Legislaturperiode weiterentwickeln?

Die Rechte und das Wohl von Kindern und Jugendlichen müssen bei allen staatlichen Entscheidungen endlich das Gewicht bekommen, das ihnen zusteht. Wir fordern deswegen die Verankerung starker Kinderrechte gemäß den Grundprinzipen der UN-Kinderrechtskonvention im Grundgesetz.

Gesellschaftliche Teilhabe und der Wunsch nach Partizipation und Selbstwirksamkeit kennen keine Altersgrenze. Trotzdem werden die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen nicht mal bei der Planung der Quartiere gehört, in denen auch sie leben sollen. Ihr Wohl werden wir im Baugesetzbuch und im Bundesimmissionsschutzgesetz verankern.

Damit junge Menschen ihre Ideen und Rechte auch wirksam einbringen und einfordern können, wollen wir niedrigschwellige Beteiligungsgremien wie Kinder- und Jugendparlamente, insbesondere auf kommunaler Ebene, stärken.

Mit einem Nationalen Aktionsplan für Kinder- und Jugendbeteiligung wollen wir sicherstellen, dass alle Kinder und Jugendlichen über ihre Rechte informiert sind und unabhängig vom soziokulturellen Hintergrund, altersgerecht und niedrigschwellig Beteiligung leben können. Dazu brauchen wir flächendeckend eine gut funktionierende Jugendarbeit, der wir durch ein Verbandsklagerecht den Rücken stärken wollen.

Verbindliche Qualitätsstandards, gesetzliche Vorgaben zur Personalplanung, ein Bundesinklusionsgesetz und ein inklusives SGBVIII sollen unsere Jugendhilfe fit für die Herausforderungen der Zukunft machen, in der sie endlich allen Kindern und Jugendlichen offensteht. (Antrag hier)

Wir verstehen politische Bildung als Querschnittaufgabe für Kitas, Schulen, Betreuungseinrichtungen und Jugendhilfe.
In einer globalisierten und immer komplizierter werdenden Welt brauchen auch Jugendliche den Blick über den Tellerrand. Wir machen uns für Angebote zu Internationalen Begegnungen und für Austauschprogramme stark. (Antrag hier)

Unsere heutige Welt ist auch eine vernetzte Welt. Auch hier dürfen wir Kinder und Jugendliche nicht schutzlos und ungewappnet lassen.
Digitale Bildung und Medienkompetenz sind unverzichtbar und wir begreifen sie als Gemeinschaftsaufgabe der Familien und Schulen sowie der Jugendhilfe.
Kinder und Jugendliche müssen auch im Netz wirksam vor allen Formen von Gewalt und Übergriffen geschützt werden. Dafür setzen wir auf eine Präventionsstrategie, mit verpflichtenden sicheren Voreinstellungen für Plattformen und altersgerechten und leicht auffindbaren Informations- und Beschwerdemöglichkeiten.

Kinder und Jugendliche sind auch ganz analog von Gewalt und Übergriffen bedroht. Dagegen gehen wir hart vor: Mit starker Prävention, konsequenter Aufarbeitung und Strafverfolgung sowie Maßnahmen zur Qualitätssicherung und zum Kinderschutz in familiengerichtlichen Verfahren.
Wir setzen zusätzlich auf Aufklärung, Ausbildung, Fortbildung, Beratung und Unterstützung von Kindern, Jugendlichen, Familien, Jurist*innen, Mediziner*innen, Pädagog*innen und Polizist*innen. 
Die Fortbildungspflicht für Familienrichter*innen und die Anforderungen an die Qualifikation von Verfahrensbeiständen werden wir klar gesetzlich regeln.

Jugendliche fordern oft bessere Beteiligungsmöglichkeiten an den für sie relevanten politischen Entscheidungen, auch auf Bundesebene. Was können Sie sich da vorstellen?

Jugendliche und junge Erwachsene müssen sich frei und selbstbestimmt entwickeln können. Verantwortungsvolle, selbstbewusste und mündige Jugendliche sollen über alle Angelegenheiten, die sie betreffen, mitentscheiden und sichere Lernorte und Freiräume haben, die sie selbst mitgestalten. Damit junge Menschen ihre Ideen und Rechte auch wirksam einbringen und einfordern können, wollen wir niedrigschwellige Beteiligungsgremien wie Kinder- und Jugendparlamente, insbesondere auf kommunaler Ebene, stärken. Wir wollen Jugendarbeit, Jugendverbandsarbeit und Demokratiebildung verlässlich unterstützen.

Wie bereits beschrieben, wollen wir sicherstellen, dass die Rechte von Kindern und Jugendlichen bei staatlichen Entscheidungen ein größeres Gewicht bekommen und maßgeblich berücksichtigt werden. Hier ist ein Nationaler Aktionsplan für Kinder- und Jugendbeteiligung ein ganz wichtiger Schritt. Darüber hinaus muss Beteiligung zum tragenden Leitprinzip aller Bildungseinrichtungen werden. Das umfasst zum Beispiel eine Demokratisierung der Schulkultur und echte Mitbestimmungsmöglichkeiten. Hierzu gehört auch, Vielfalt als Wert zu erfahren und anzuerkennen.

Als jugendpolitische Sprecherin der Grünen Bundestagsfraktion setze ich mich seit langem für eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre ein. Auch in dieser Wahlperiode haben wir Gesetzentwürfe für die Wahlen zum Deutschen Bundestag und zum Europaparlament vorgelegt.

Auch in der nächsten Legislatur wollen wir einen neuen Anlauf starten und möglichst breite Bündnisse schmieden, damit eine verfassungsändernde Wahlalterabsenkung auch wirklich gelingen kann. Auf Basis einer Evaluation des Wahlalters 16 wollen wir dieses perspektivisch gegebenenfalls weiter absenken.

Dafür gibt es gute Gründe. Demokratie lebt von der Gestaltung, der Einmischung und dem politischen Engagement aller Bürgerinnen und Bürger. Dazu gehören auch die Jugendlichen, denn sie tragen mit Kreativität, Flexibilität und Mut wesentlich zum gesellschaftlichen Wandel bei. Viele Jugendliche sind hochmotiviert, engagieren sich und wollen bei politischen Entscheidungen, die ihre eigene Zukunft oft am stärksten betreffen, eingebunden werden.

In einer immer älter werdenden Gesellschaft sollen junge Menschen ihre Zukunft mitgestalten, denn auch sie haben ein Recht darauf, dass Ihre Meinungen, Wünsche und Vorstellungen bei politischen Entscheidungen berücksichtigt werden.

Jugendbeteiligung soll deshalb an allen Orten des Aufwachsens möglich sein, auch an der Wahlurne. Wer früh ernst genommen wird und spürt, dass Dinge durch eigenes Engagement verändert werden können, erlebt eigene Wirkmächtigkeit und lernt Demokratie.

Das Verfassungsgerichtsurteil zum Klimagesetz hat das Thema Generationengerechtigkeit auf die Tagesordnung gebracht. Wie will Ihre Partei mit den unterschiedlichen Interessen der Generationen in Deutschland umgehen?

Was uns die Waldbrände und Dürren der letzten Sommer und auch die jetzigen Überschwemmungen in dramatischem Ausmaß zeigen, ist, dass die Klimakrise schon jetzt und auch bei uns angekommen ist. Damit sind bereits alle Generationen betroffen - wenn auch die jüngeren noch weitaus mehr davon zu spüren bekommen werden. Die Klimakrise hat dramatische Konsequenzen für alle Menschen. Indem sie sich beispielsweise auch auf die Gesundheit auswirkt und die Zahl an Hitzetoten schon jetzt zunimmt. Dabei sind ältere Menschen und Senior*innen oft mehr betroffen als Jüngere. Es kann also nur im Sinne aller Generationen liegen, mehr Klimaschutz voranzubringen und die Klimakrise einzudämmen. Auch Klimaanpassung - die Vergrünung der Innenstädte beispielweise - hilft allen Menschen und wirkt sich auch direkt auf ihr Wohlergehen aus.

Klimaschutz bedeutet, mehr Freiheiten und Alternativen für alle zu sichern und das schon jetzt. Es ist nicht nur die Sache der Kinder und Jugendlichen, sondern muss auch im Interesse der älteren Generationen liegen. Auf dem Weg zur Klimaneutralität müssen wir natürlich die Interessen aller Generationen beachten, wir müssen in allen Sektoren zusammenarbeiten und die verschiedenen Lebensentwürfe dabei respektvoll einkalkulieren. Es wird Weiterbildung und Umschulungen brauchen, Wirtschaftshilfen und finanzielle Unterstützungen, Reformen und Aufwertung von Berufen. Diesen Weg können wir alle gemeinsam gehen, im ständigen Diskurs und unter Einbezug der Gerechtigkeit - nicht nur der Generationengerechtigkeit, sondern auch der Geschlechter- und sozialen Gerechtigkeit.

Die Klimakrise ist eine Menschheitsaufgabe und dafür braucht es den Mut und die Bereitschaft aller Generationen, gemeinsam und konsequent den Weg zur Klimaneutralität zu gehen.

Wir bedanken uns für das Gespräch!

jugendgerecht.de - Arbeitsstelle Eigenständige Jugendpolitik - August 2021