Jugendarmut muss ressortübergreifend bekämpft werden
Ein Gastbeitrag von Lea Herzig, Juli 2022
Christoph Butterwegge hat in seinem Beitrag "Arme Jugendliche - von der Politik vergessen?" vor allem auch darauf hingewiesen, dass Jugendarmut seit vielen Jahren ein Problem ist, dies aber gesellschaftlich kaum wahrgenommen wird. Als Bundesjugendring ist es uns seit langem ein Anliegen, diese Problematik verstärkt in den öffentlichen Diskurs zu tragen. Ich will zu Beginn noch einmal sehr deutlich machen: Jugendarmut lässt sich nicht unter dem Schlagwort Kinderarmut subsumieren. Die Armut von jungen Menschen lässt sich nicht nur unter dem Phänomen der Familienarmut betrachten. Jugendarmut ist ein eigenständiges Phänomen und verdient daher eine stärkere Fokussierung! Natürlich hängen diese drei spezifischen Vorkommen von Armut in der deutschen Gesellschaft zusammen, niemand würde bestreiten, dass es in armen Familien vor allem auch arme Kinder und Jugendliche gibt. Doch als Bundesjugendring sehen wir immer wieder, wie die Gruppe der Jugend in Diskussionen um Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut nicht bedacht wird. Vielmehr wird oftmals sogar behauptet, dass Jugendarmut ein selbstverschuldetes Problem sei und es doch normal sei, dass man in den ersten Jahren der Ausbildung eher mit wenig Geld auskommen muss, à la „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“.
Wir fordern daher von der Bundesregierung ein ressortübergreifendes Vorgehen, damit endlich erhebliche Veränderungen in Gang gesetzt werden, sodass junge Menschen in Deutschland nicht mehr in Armut aufwachsen müssen und ihnen endlich Chancen auf Teilhabe und eine bessere Zukunftsperspektive geschaffen werden.
Skizze einer eigenständigen Jugendpolitik
Eine ressortübergreifende, eigenständige Jugendpolitik ist in der Lage, die derzeit sich stetig durch Pandemie und Kriegsauswirkungen verschärfende Situation für junge Menschen abzufedern. Wie Christoph Butterwegge ausgeführt hat, so war es die Corona-Pandemie, die insbesondere junge Menschen stark beeinträchtigt hat. Und ich möchte nun kurz auf die fünf Felder eingehen, die aus Sicht des Bundesjugendrings am dringendsten anzugehen sind:
Zugang zu einer guten Berufsausbildung schützt junge Menschen vor Armut
In der Pandemie hat sich unter anderem der Ausbildungsmarkt stark verschlechtert. Trotz regionaler Unterschiede müssen wir leider feststellen, dass immer weniger Ausbildungsplätze, weniger als 20% im Vergleich zu vor der Pandemie, für junge Menschen zur Verfügung stehen. Gleichzeitig wird in einigen Branchen über fehlende Bewerber*innen und steigende Kosten für die Ausbildung geklagt. Als Bundesjugendring fordern wir daher die Einführung einer umlagefinanzierten Ausbildungsplatzgarantie, die nicht nur allen jungen Menschen die Möglichkeit zu einer guten Berufsausbildung eröffnet, sondern auch die ausbildenden Betriebe finanziell entlastet. Denn im europäischen Vergleich sehen wir: Nur der Zugang zu einer guten Berufsausbildung kann junge Menschen vor Armut schützen.
BAföG muss Vollzuschuss werden
Gleiches gilt für den freien Zugang zu Bildung. Immer noch ist es in Deutschland so, dass man sich ein Studium leisten können muss. Ein Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands zeigt, dass Studierende überproportional zur Gesamtbevölkerung von Armut betroffen sind und dass das BAföG dieses Problem in keiner Weise löst. Der Wegfall von klassischen Studijobs in der Pandemie hat viele Studierende vor existentielle Probleme gestellt. Die zögerlichen Notfallregelungen im BAföG zur Verlängerung der Förderdauer haben bei weitem nicht die Schwierigkeiten abgefedert, die sich aus der digitalen Lehre ergeben haben. Die letzte Novelle des BAföG kann daher auch aus Sicht des Bundesjugendrings nur als ein erster Schritt gesehen werden. Wir fordern von der Bundesregierung vor allem ein Umdenken in der Förderungshöchstdauer. Hier muss endlich auch ein Ehrenamt in Jugendverbänden und nicht nur in Gremien der Hochschulen anrechenbar werden. Zudem fordern wir eine Kehrtwende in der Bezuschussung: Es kann nicht sein, dass der Darlehensanteil junge Menschen davon abhält BAföG zu beantragen, da sie fürchten, auch nach ihrem Studium weiter in Armut leben zu müssen. Das BAföG muss endlich wieder zu einem Vollzuschuss werden.
Kindergrundsicherung muss Übergänge abdecken
Als drittes wichtiges Instrument zur Bekämpfung von Jugendarmut sehen wir als Bundesjugendring die Einführung einer Kindergrundsicherung und fordern von der Bundesregierung die schnellstmögliche Umsetzung, die ja bereits im Koalitionsvertrag versprochen wurde. Dabei gilt aber natürlich einiges zu beachten: Zum einen brauchen wir eine Kindergrundsicherung, die auch wirklich das soziokulturelle Existenzminimum von Kindern und Jugendlichen abdeckt. Eine Grundsicherung, die gerade einmal für drei Mahlzeiten am Tag und neue Schuhe genügt, wenn die alten zu klein geworden sind, reicht uns nicht. In die Berechnung dieses Existenzminimums müssen also alle Kosten, die auf Kinder und Jugendliche zukommen, eingepreist werden, sei es die Mitgliedschaft im Jugendverband, der Bibliotheksausweis oder der regelmäßige Besuch von Konzerten und Museen. Und gleichzeitig muss natürlich bedacht werden, dass nicht in allen Familien der Bedarf für eine Kindergrundsicherung vorhanden ist. Ein dynamisches Sockelmodell, das nach dem Einkommen und Vermögen der Eltern abschmilzt, sollte daher unbedingt die erste Wahl sein. Aus diesem Grund kann ich der Kritik von Christoph Butterwegge nur zustimmen, dass eine steuerfinanzierte und pauschalierte Universalleistung an alle die Armut von Kindern und Jugendlichen bei weitem nicht auflösen würde, sondern eine Kindergrundsicherung zielgruppenorientiert eingesetzt werden muss. Zudem fordern wir, dass dabei der Übergang von Schule in Ausbildung oder Studium nicht vergessen werden darf: Eine Altersgrenze von 18 Jahren, die allein bei dem Begriff der Kindergrundsicherung immer mitschwingt, würde junge Menschen erheblich benachteiligen. Hier zeigt sich sehr deutlich, dass mit einem Fokus auf Jugend auch die Verzahnung von Kindergrundsicherung, Mindestausbildungsvergütung und BAföG mitbedacht werden kann und eine Beschränkung auf Kinder für alle zum Nachteil würde. Eine Kindergrundsicherung muss Übergänge von Schule in Ausbildung oder Studium abdecken.
Wohnen und Mobilität sind für die Jugend essentiell
Zuletzt möchte ich noch auf zwei Felder kommen, in denen wir als Bundesjugendring den verstärkten Bedarf eines jugendpolitischen Fokus sehen: Wohnen und Mobilität. Jungen Menschen wird spätestens in dem Moment sehr deutlich, dass sie in Armut leben, wenn sie von zu Hause ausziehen und ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten müssen. Und immer weiter steigende Kosten für Wohnraum machen diesen wichtigen Schritt in die Eigenständigkeit junger Menschen unmöglich. Aus Sicht des Bundesjugendrings können die Wiedereinführung der Wohnungsgemeinnützigkeit, eine Mietpreisbremse sowie wirklicher sozialer Wohnungsbau entscheidende Stellschrauben sein. Azubi- und Studierendenwohnheime können in dieser Zeit der Ausbildung erhebliche Lasten abfedern. Doch nur allein mit dem Kredo "Bauen, bauen, bauen" scheint es in diesem Feld nicht zu einer Trendwende zu kommen, gerade wenn dieses Bauen nicht bedarfsorientiert erfolgt. Dazu ist es bemerkenswert, dass die Jugend, als Auszubildende und Studierende fast gänzlich aus den Programmen für die Abfederung der steigenden Energiekosten fallen. Es scheint die Meinung in der Bundesregierung zu geben, junge Menschen könnten Frieren und kalt zu duschen besser verkraften.
Nun komme ich noch kurz auf das 9-Euro-Ticket zu sprechen. Natürlich ist dies auch für junge Menschen eine Entlastung, gerade Jugendliche möchten mobil sein, möchten und sollten die Möglichkeit erhalten, nicht nur die eigene Stadt oder den eigenen Landkreis in all seinen Facetten zu erfahren. Und nun auch noch in den Sommermonaten die Aussicht zu haben, durch das ganze Land für nur 9 Euro im Monat zu reisen, ist natürlich gerade für von Armut betroffene Kinder und Jugendliche großartig. Doch nun mal ehrlich, warum nicht einfach immer so? Warum Kindern und Jugendlichen nicht immer dieses Feld der Mobilität öffnen? Nicht nur, dass sie dadurch von klein auf den öffentlichen Nah- und Regionalverkehr als gute Alternative zum Individualverkehr erkennen können, zumindest wenn auch in ihrem Stadtteil oder Dorf der Bus hält. Nein, sie werden auch noch erheblich von hohen Kosten für dieses doch so wichtige Gut entlastet. Abotickets für Schüler*innen gibt es meist ja noch in jedem Verkehrsverbund, doch schon kostengünstige Tickets für Azubis wie jenes für 365 Euro im Jahr in Berlin, werden nicht überall angeboten. Die Tickets von Studierenden übersteigen zudem häufig einen Satz von einem Euro pro Tag, was insbesondere bei der Armutsbedrohung von Studierenden ein Skandal ist. Und weil das System Dual-Studierende gänzlich vergisst, bleiben für diese häufig nur die klassischen Monatsfahrkarten übrig. Also, warum nicht endlich Mobilität als eine wichtige Voraussetzung für Inklusion, Selbstbestimmung, Emanzipation und Partizipation aller jungen Menschen sehen sowie als auch die Voraussetzung für ihre gesellschaftliche Teilhabe? Wohnen und Mobilität sind gerade für die Jugend essentiell.
Investitionen in Infrastruktur, aber jugendgerecht
Neben all diesen Einzelmaßnahmen, die wichtige Schritte in der Bekämpfung von Jugendarmut sein werden, fordern wir als Bundesjugendring die Bundesregierung dazu auf, endlich wieder mehr in Teilhabe und Infrastruktur zu investieren. Ich habe bei der Bewertung der einzelnen Maßnahmen aus jugendpolitischer Perspektive versucht deutlich zu machen, dass bei diesen immer eine ressortübergreifende Betrachtung von Jugend im Fokus stehen sollte und gleichzeitig bei der Entwicklung dieser Maßnahmen die Jugend immer dialogisch beteiligt werden muss. Doch gleichzeitig müssen darüber hinaus auch Investitionen in die weitere Infrastruktur von Jugend getätigt werden: Die Kindergrundsicherung hilft nicht genug gegen die Armut junger Menschen, wenn gleichzeitig die Preise für Freibad und Museum ständig steigen; der erhöhte BAföG-Satz ist nicht viel wert, wenn gleichzeitig den Universitäten Gelder gekürzt werden und diese ganze Studiengänge abschaffen müssen; eine Ausbildungsplatzgarantie verfängt nicht, wenn es in den Berufsschulen von der Decke tropft und Ausbildungsmaterialien schon seit Jahren veraltet sind. Und auch das hat die Pandemie gezeigt: Die Bekämpfung von Armut scheitert dort, wo zwar materielle Absicherung hergestellt wird, aber junge Menschen, die vereinsamen und in Not geraten, keine Therapieplätze finden.
Es braucht eine Zeitenwende, wie sie gerade ja gerne beschworen wird. Allerdings eine, die die Bedürfnisse junger Menschen endlich in den Fokus politischen Handelns stellt und mit ihnen zusammen die drängendsten Probleme angeht!
Zur Person
Lea Herzig ist seit September 2021 stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Bundesjugendring e.V. Dort ist sie vor allem für die Themen Sozialpolitik, Demokratie- und Erinnerungspolitik zuständig. Sie ist ehrenamtlich in der Jugend des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB-Jugend) aktiv und Mitglied des DGB-Bundesjugendausschuss
In diesem Gastbeitrag kommentiert die Autorin den Beitrag "Arme Jugendliche, von der Politik vergessen?" von Prof. Dr. Butterwegge, der im Rahmen der Fachtagung "Jugendpolitik im Dialog" am 2. Juni 2022 in Frankfurt am Main entstand.