Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport
Thüringen hat die Eigenständige Jugendpolitik als Grundlage seiner Landestrategie festgeschrieben. Welche Ziele verfolgt das Land mit der Strategie?
In Thüringen wird insbesondere die Mitbestimmung junger Menschen bei Themen, die sie betreffen, als Wesenskern der Eigenständigen Jugendpolitik beschrieben. In diesem Ansatz zeigt sich das Verständnis, dass die Lebensphase Jugend prägend für den weiteren Lebensweg ist. Mit der Mitbestimmung als zentralem Ausgangspunkt wird dabei herausgestellt, dass eine Eigenständige Jugendpolitik nicht als ein Unterbegriff von Familie oder Bildung verstanden werden kann. Dass „Jugendthemen“ nicht der alleinigen Verantwortung eines Ressorts der Landesregierung zugeordnet werden können zeigen auch die ersten Erkenntnisse des Thüringer Jugend-Checks.
Mit der Landesstrategie sollen in einem ersten Schritt die Voraussetzungen für die Mitbestimmung junger Menschen verbessert werden. Dazu zählt der Aufbau langfristiger Unterstützungsstrukturen und die Verabschiedung entsprechender gesetzlicher Rahmenbedingungen.
Dazu sind wir in Thüringen in den letzten Jahren wichtige Schritte gegangen. Mit umfassenden Anpassungen im Thüringer Kinder- und Jugendhilfe-Ausführungsgesetz, der Thüringer Schulordnung und nicht zuletzt der Thüringer Kommunalordnung wurden zentrale Gesetze zu Regelungen der Mitbestimmung junger Menschen in der Schule, der Kommune und auf Landesebene ergänzt. Es wurde eine Servicestelle Mitbestimmung im Landesjugendamt/Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport eingerichtet und ein Referent für die fachliche Begleitung des Themenfeldes der Eigenständigen Jugendpolitik eingestellt. Dies schafft einen guten Ausgangspunkt für langfristige Stärkung von Mitbestimmung und der Eigenständigen Jugendpolitik in Thüringen.
Was ist für die nachhaltige Umsetzung der jugendpolitischen Ziele in Thüringen noch nötig?
Wir haben uns hierbei generell hohe Ziele gesetzt. Ein Beispiel ist die Etablierung einer umfassenden Transparenz bei Entscheidungen und die Ausschöpfung der Mitbestimmungsmöglichkeiten auf allen Ebenen. Mit den genannten Schritten haben wir uns auf den Weg gemacht und wollen diesen weiterhin gemeinsam, insbesondere mit den Thüringer Trägern der Jugendhilfe und den Selbstvertretungen junger Menschen, weiterdenken. Aber, und das ist an dieser Stelle wichtig zu betonen, es handelt sich nicht um einen Sprint, sondern um einen Ausdauerlauf. Den Weg zu den gesteckten Zielen gilt es daher regelmäßig zu überprüfen und wenn notwendig anzupassen.
Der diesjährige Fachtag der Servicestelle Mitbestimmung unter dem Titel "Chancen schaffen: Junge Menschen erreichen und begeistern" hat wieder eindrücklich aufgezeigt, dass wir im Bereich der Jugendhilfe, und darüber hinaus, viele motivierte und kompetente Fachkräfte haben, die vor Ort die Eigenständige Jugendpolitik mit Leben füllen. Fachkräfte, denen es wichtig ist, dass jungen Menschen zugehört wird und ihre Perspektiven ernstgenommen werden.
Verständlich ist aber ebenfalls, dass es für die nachhaltige Verankerung von Mitbestimmungsstrukturen eine partnerschaftliche Zusammenarbeit aller Akteure auf Landes- und kommunaler Ebene braucht. Die Zusammenarbeit kontinuierlich fortzuentwickeln ist daher unser grundlegendes Ziel.
Was sind nach den Erkenntnissen des neuen Thüringer Jugendberichts zu den Lebenslagen Jugendlicher aktuell die drängendsten jugendpolitischen Herausforderungen im Land?
Die Ergebnisse des Berichts sind sowohl ein Aufruf zum Handeln als auch ein Zeichen der Hoffnung. Sie zeigen, dass viele junge Menschen in Thüringen gut aufwachsen, aber es gibt auch beträchtliche Ungleichheiten, die beseitigt werden müssen. Unser Ziel ist es generell, Chancengleichheit zu fördern und jedem jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, sein volles Potenzial zu entfalten.
Ein wichtiges Themenfeld, dass der Lebenslagenbericht nochmal herausgestellt hat, ist dabei die psychische Gesundheit junger Menschen. Die psychischen Belastungen junger Menschen, insbesondere bei Mädchen und jungen Frauen, haben zugenommen. Die Auswirkungen der COVID-19 Pandemie sind noch deutlich zu spüren. Hier dürfen und wollen wir junge Menschen nicht alleine lassen und werden daher zielgerichtet unterstützen.
Anschließend an die Arbeit im Bereich der Mitbestimmung junger Menschen zeigt der Bericht auch, dass wir in diesem Bereich unsere Datenbasis verbessern müssen. Es braucht eine systematische Erhebung von Beteiligungsformaten für junge Menschen in Thüringen, um vorhandene gute Praxis zu identifizieren, Bedarfe zu ermitteln und Lücken zu schließen. Dies könnte Bestandteil kommender Landesstrategien sein, da es dabei essentiell ist, sich mit allen Akteuren der Thüringer Beteiligungslandschaft abzustimmen.
Als erstes Bundesland wurde in Thüringen der Jugend-Check eingeführt. Wie wird er konkret umgesetzt?
Mit dem Modellprojekt „Jugend-Check Thüringen“ in Kooperation mit dem Deutschen Institut für öffentliche Verwaltung in Speyer (FöV) sind wir einen weiteren Schritt gegangen, Eigenständige Jugendpolitik umzusetzen und in der ressortübergreifenden Verwaltungspraxis zu erproben. Im Rahmen des Modellprojektes werden seit 2022 alle Gesetze der Thüringer Landesregierung einer wissenschaftlichen Gesetzesfolgeneinschätzung zugeleitet. Hier freuen wir uns, mit den erfahrenen Kolleg*innen des FöV zusammenarbeiten zu können. Diese erarbeiten für jeden Gesetzesentwurf ein kompaktes und wissenschaftliches Gutachten (Jugend-Check), in dem mögliche Auswirkungen auf bestimmte Lebensbereiche junger Menschen in Thüringen beschrieben werden. Diese Jugend-Checks werden dann dem für den jeweiligen Gesetzesentwurf zuständigen Ministerium vor der finalen Ressortabstimmung bereitgestellt. Passiert der Gesetzesentwurf das Kabinett, werden die Jugend-Checks auch veröffentlicht.
Der Jugend-Check zeigt deutlich das zentrale Anliegen der Eigenständigen Jugendpolitik mit Blick auf die Arbeit der Landesregierung auf: Gesetzesentwürfe mit besonderen Auswirkungen auf junge Menschen gibt es im Bereich des Finanzministeriums genauso wie im Infrastruktur- oder Sozialministerium.
Jugendthemen liegen quer zu ressortspezifischen Zuständigkeiten. Letztendlich ist dies jedoch eher als „Nebeneffekt“ zu verstehen. Wichtiger ist, dass die Jugend-Checks den Kolleg*innen der zuständigen Ressorts eine pragmatische Unterstützung geben, um nichtintendierte Gesetzesfolgen vor dem finalen Kabinettsbeschluss auszuschließen. Daher wurde auch in allen Phasen der Implementation in die Abläufe der Ressortabstimmung versucht, Verzögerungen im Ablauf oder eine Mehrbelastung der zuständigen Fachkolleg*innen zu vermeiden. Dies ist uns bisher auch gut gelungen.
Die entstandenen Jugend-Checks ermöglichen mit der Veröffentlichung aber auch Jugendverbänden einen schnellen Überblick zu Jugendthemen in komplizierten Fachgesetzen bzw. dessen Entwürfen. Der Jugend-Check kann daher durchaus auch als Unterstützung der Transparenz der Landespolitik verstanden werden.
Wie funktioniert die Verknüpfung von Jugendbeteiligung und Gesetzesfolgenabschätzung in Thüringen, welche Ziele stecken dahinter und welche Perspektiven sehen Sie für den Jugend-Check?
Hier haben wir im Zusammenhang mit dem Thüringer Jugend-Check erprobt, wie junge Menschen als Expert*innen ihres eigenen Alltags ihre Perspektive einbringen können. Wichtig war uns die Vielfalt der Perspektiven aufzuzeigen und verschiedenste junge Menschen in einem Jugend-Team zum Thüringer Jugend-Check zusammenzubringen. Dies ist uns mit einer doppeltgewichten Zufallsauswahl aus dem Melderegister gelungen. Bei der Durchführung der entsprechenden Veranstaltungen hat uns dann der Landesjugendring Thüringen e.V. organisatorisch und mit seinem jugendpolitischen Sachverstand sehr gut unterstützt.
In der Umsetzung hat sich dann schnell offenbart, dass das Jugend-Team nicht nur ergänzende, inhaltliche Perspektiven aufgezeigt hat, sondern die Teilnehmenden haben ebenso die Experten aus den Fachreferaten vom Perspektivenwechsel überzeugt.
Zusammenfassend kann man daher sagen, dass wir mit Blick auf den Jugend-Check drei Ziele verfolgen: ressortübergreifend eine jugendgerechte Gesetzgebung stärken, die Breite der Fachthemen der Landesregierung den Jugendverbänden niedrigschwellig zugänglich zu machen und Alltagsperspektiven junger Thüringer*innen auf Landesebene verstärkt zu berücksichtigen.
Das Modellprojekt „Jugend-Check Thüringen“ ist momentan bis Ende 2026 angelegt. Wichtige Meilensteine für die kommenden Jahre sind es, ein weiteres Jugend-Team einzuberufen, ergänzende quantitative Methoden zu erproben und die Relevanz der Jugend-Checks in den Fachressorts abzubilden.
Nach Abschluss des Modellprojektes ist dann zu prüfen, ob der Thüringer Jugend-Check den gesetzten Zielen gerecht geworden ist und langfristig in den Ablauf der Arbeit der Thüringer Landesregierung integriert werden sollte. Ich bin, nach den bisherigen Ergebnissen, guter Dinge, dass das Modellprojekt erfolgreich abgeschlossen werden kann und wir in Thüringen hierauf aufbauen werden.
Können Sie zu den Erfahrungen mit der Beteiligungsstrategie und den begleitenden Änderungen im Thüringer Ausführungsgesetz ein erstes Fazit ziehen?
Es zeigt sich, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Mit den Meilensteinen der Landesstrategie Mitbestimmung ist eine solide Grundlage gelegt worden und darauf beziehen wir uns. Die Änderungen des Thüringer Kinder- und Jugendhilfe-Ausführungsgesetz haben nicht nur mit der Öffnung der Jugendhilfeausschüsse für junge Menschen wichtige Impulse gesetzt. Die Erhöhung der Fördersummen der „Örtlichen Jugendförderung“ und der Schulsozialarbeit ermöglichen vor Ort die Ressourcen für die Arbeit mit und für junge Menschen.
Blickt man auf die neuen Anforderungen zur Beteiligung junger Menschen, wird deutlich, dass Gesetze mit Leben gefüllt werden müssen. Ob bei der Organisation eines jugendgerechten Jugendhilfeausschusses oder in kommunalen Beteiligungsprozessen für junge Menschen, es gibt in allen Bereichen Herausforderungen, für die gemeinsame Lösungen erprobt werden müssen.
Dabei ist es erfahrungsgemäß nicht einfach, etablierte „Erwachsenstrukturen“ jugendgerecht zu öffnen. Dies zeigt sich zum Beispiel in vermeidlich kleinen Fragen zu den Rahmenbedingungen, wie den Sitzungszeiten, aber auch in der grundsätzlichen Aufbereitung der Sitzungsinhalte.
Desweiteren ist gelungene Mitbestimmung nur langfristig gesichert, wenn höherschwellige Beteiligung, beispielsweise von Jugendselbstvertretungen im Landesjugendausschuss, mit niedrigschwelligeren Formaten Hand in Hand geht. Daran werden wir fortwährend arbeiten.
Der nächste Schritt wird sein, unsere Datenbasis im Bereich der Mitbestimmung auszubauen und die Landesstrategie, in Rücksprache mit den Thüringer Akteuren, zu evaluieren.
Zur Person
Martina Reinhardt ist Abteilungsleiterin für Kinder, Jugend, Sport und Landesjugendamt im Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport.
Weiterführende Links:
Servicestelle Mitbestimmung und Landesstrategie Mitbestimmung: www.mitbestimmung.thueringen.de
Jugend-Check Thüringen: www.jugend-check-thueringen.de
Lebenslagenbericht: Lebenslagenbericht junger Menschen Thüringen & Stellungnahme der Landesregierung