Junge Menschen stärken: Kinderrechte als Instrument der Jugendpolitik
Claudia Kittel, Leiterin der Monitoring-Stelle UN-Kinderrechtskonvention am Deutschen Institut für Menschenrechte
Mehr als 30 Jahre ist es her, dass die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention / UN-KRK) am 20. November 1989 verabschiedet hat.[1] Für Kinder[2] – und damit sind gemäß Vorgaben aus Artikel 1 der UN-Kinderrechtskonvention alle Menschen gemeint, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben – wurde damit ein Paradigmenwechsel völkerrechtlich festgeschrieben: Kinder wurden als Rechteinhaber_innen anerkannt und damit vom Objekt der Erziehung zu Subjekten mit eigenen Rechten.
Ausgangspunkt dessen war die einhellige Feststellung, dass Kindern der Zugang zu ihren Menschenrechten aufgrund ihres Kind-Seins und ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit grundsätzlich erschwert sei. Folglich wurden die Rechte von Kindern präzisiert.[3]
196 Staaten sind der UN-Kinderrechtskonvention als völkerrechtlich verbindlichem Vertragswerk seitdem beigetreten.[4] In Deutschland ist die Konvention seit 5. April 1992 in Kraft. Doch trotz ihres Ranges als einfaches Bundesgesetz und der unmittelbaren Anwendbarkeit als innerstaatliches Recht ist die UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland weiterhin ein unterschätztes, häufig unbekanntes und beharrlich ignoriertes Vertragswerk.[5] Das mag daran liegen, dass viele der Vertragsstaaten – und auch Deutschland – die Kinderrechtskonvention unterschätzt haben. Unterschätzt in der Form, dass in der UN-Kinderrechtskonvention neben den sogenannten Schutz- und Fürsorgerechten, erstmalig auch die Beteiligungsrechte von Kindern explizit festgeschrieben wurden.
Besonders hervorzuheben sind mit Blick auf die Beteiligungsrechte zwei der sogenannten Grundprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention, die den emanzipatorischen Gedanken der Konvention wiederspiegeln: Artikel 3, Absatz 1 UN-KRK mit dem Vorrang des Kindeswohls (best interests of the child) und Artikel 12 UN-KRK mit dem Recht des Kindes auf Gehör und Berücksichtigung seiner Meinung (Beteiligung). Sie sind, wie man es den sogenannten Allgemeinen Kommentaren (General Comments) des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes zu diesen beiden Artikeln entnehmen kann, inhaltlich eng miteinander verwoben.[6] Zentral dabei ist, dass Artikel 3 den Vertragsstaaten für die Ermittlung des Kindeswohls (best interests of the child) genaue Vorgaben macht. Anders als der im Kontext des Kindeschutzes verwandte Begriff des Kindeswohls, der insbesondere im Zusammenhang mit der Abwendung einer Kindeswohlgefährdung durch staatliche Maßnahmen verknüpft ist, ist das Kindeswohl (best interests of the child) aus Artikel 3 UN-KRK vom Gedanken getragen, dass Kinder von Anfang an „zur eigenständigen Rechtsausübung“ ermächtigt werden sollen.[7]
Nach Auffassung des UN-Ausschusses umfasst die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls (best interests of the child) drei Ebenen:
- es handelt sich um ein subjektives Recht von Kindern, dass bei allen staatlichen Entscheidungen als Abwägungsmaßstab gilt,
- ein Grundprinzip für die Rechtsauslegung und
- eine Verfahrensregel, die vorgibt, dass bei allen staatlichen Entscheidungen, die Auswirkungen auf Kinder haben, diese ermittelt und dabei transparent und nachvollziehbar (für die spätere Abwägung) dokumentiert werden müssen.[8]
Zu betonen ist dabei, dass die Ermittlung des Kindeswohl (best interests of the child) untrennbar mit dem Recht auf Gehör und Berücksichtigung der Meinung von Kindern (Beteiligung) aus Artikel 12 UN-KRK verbunden ist.[9] Der darin steckende Grundsatz lässt sich in Form einer Adaption des Slogans der autonomen Behindertenbewegung, der im Kontext der Verhandlungen zur Schaffung der UN-Behindertenrechtskonvention (2006) entstand: „Nichts über uns, ohne uns!“[10] zusammenfassen: Nichts für oder über Kinder, ohne Kinder.
Und mit Blick auf die Vorgaben von Artikel 12 UN-KRK gilt es einen weiteren Punkt zu erläutern, der im Zuge der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention von vielen der Vertragsstaaten unterschätzt wurde: Artikel 12 UN-KRK umfasst zwei Absätze und insbesondere Absatz 1: „Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind betreffenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.“ enthält einen zentralen Ansatzpunkt hinsichtlich des emanzipatorischen Ansatzes der UN-Kinderrechtskonvention, der auch heute noch in Deutschland nicht verwirklicht ist. Es geht dabei um das Recht des Kindes – als Recht eines einzelnen Kindes, aber auch als Recht von Kindern als Gruppe – auf Gehör und Berücksichtigung seiner Meinung „in allen das Kind berührenden Angelegenheiten“. Der Ausschuss betont in seinem Allgemeinen Kommentar zu Artikel 12 UN-KRK ausdrücklich, dass „Angelegenheiten“ breit zu verstehen seien und keineswegs auf von staatlichen Stellen festgelegte Bereiche zu beschränken seien.[11] Eine Konkretisierung hinsichtlich des Rechts des Kindes auf Gehör und Berücksichtigung seiner Meinung in allen das Kind berührenden Gerichts- und Verwaltungsverfahren erfolgt erst in Absatz 2 des Artikel 12. Wobei auch hier noch einmal betont wird, dass nicht nur Gerichtsverfahren gemeint sind, die das Kind unmittelbar betreffen, sondern durchaus auch, wenn ein Kind beispielsweise durch eine gerichtliche Entscheidung, wie die Inhaftierung eines Elternteils betroffen ist.[12]
Es erstaunt angesichts dieser doch sehr weitreichenden Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention, dass die aktuelle Debatte der Regierungskoalition zur Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz, an genau diesem Punkt zu (wie es scheint) unüberwindbaren Kontroversen führt. Dabei hat der aus der Presse bekannt gewordene Formulierungsvorschlag von Bundesministerin Lambrecht, zu dem die Ressortabstimmung noch nicht abgeschlossen werden konnte und der daher noch nicht als Referent_innenentwurf in die parlamentarische Debatte weitergereicht werden konnte, in seiner Formulierung das Recht auf Gehör und Berücksichtigung der Meinung des Kindes schon einzig auf Artikel 12 Absatz 2 reduziert, also auf das Gehör in gerichtlichen und Verwaltungsverfahren. Er bleibt damit signifikant hinter dem bestehenden Gewährleistungsgehalt der UN-Kinderrechtskonvention, der Europäischen Grundrechtecharta sowie hinter der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurück.[13] Die Tatsache, dass selbst dieser Vorschlag in puncto Beteiligungsrechte dennoch Kontroversen auslöst, zeigt, wie notwendig Maßnahmen, wie die Eigenständige Jugendpolitik mit ihren Strategien und Programmen auf Ebene von Bund, Ländern und Kommunen sind. Notwendig in der Form, dass es über die rechtlichen Grundlagen hinaus, ein klares Bekenntnis einer Regierung bzw. der Verantwortungsträger_innen vor Ort braucht, damit die Verwirklichung des Rechts auch gewährleistet ist.
Vor 30 Jahren hat die Konvention einem Wandel in der „Wahrnehmung“ von Kindern, wie ihn bereits Reformpädagog_innen Anfang des 20. Jahrhunderts gefordert hatten, eine rechtliche Grundlage gegeben. Heute, angesichts der Entwicklungen im pädagogischen Fachdiskurs und dem - wie wir aus partizipativer Kindheitsforschung wissen - gewandelten Miteinander von Kindern und Erwachsenen beispielsweise in Familien, erstaunt es doch, dass es eine solche Betonung durch Entscheidungsträger_innen immer noch braucht.
Die UN-Kinderrechtskonvention könnte für die Eigenständige Jugendpolitik als „Rückenwind“ dienen. Dieser „Rückenwind“ könnte dabei aus der Haltung bestehen, dass es längst eine verbindliche Grundlage für die Verpflichtung Deutschlands gibt, das Recht von Kindern und Jugendlichen auf Gehör und Berücksichtigung ihrer Meinung zu achten, zu schützen und zu gewährleisten. Anders herum könnte der kinderrechtliche Diskurs von der Eigenständigen Jugendpolitik und der Wirkungsmöglichkeiten beispielsweise einer Jugendstrategie lernen. Lernen in der Form, dass ein klares Bekenntnis der Entscheidungsträger_innen die Rechtswirklichkeit und auch die direkte Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen unmittelbar beeinflussen kann. Wenn also die Bundesregierung im nächsten Jahr ihren bereits im April 2019 bei den Vereinten Nationen vorgelegten Staatenbericht im „konstruktiven Dialog“ mit den Vertreter_innen des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes diskutieren wird, dann wäre es sehr hilfreich, wenn der Ausschuss in seinen Abschließenden Empfehlungen an Deutschland, weitreichendere umfassende politische Maßnahmen zur besseren Durchsetzung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in Deutschland mit besonderem Nachdruck empfehlen würde. Dann könnten – ähnlich wie bei der Jugendstrategie – die vielfältigen Handlungsfelder noch einmal betont werden in denen Kinder und Jugendliche allzu oft immer noch übergangen werden. Auch wenn es angesichts von drei Jahrzenten UN-Kinderrechtskonvention ein wenig betrübt, dass die „Ermächtigung“ durch die erwachsenen Entscheidungsträger_innen für eine umfassende Beteiligung junger Menschen an gesellschaftlichen Entscheidungen noch immer gebraucht wird, lassen die vielen Erfolge dennoch hoffen.
https://www.institut-fuer-menschenrechte.de
[1] Convention on the Rights of the Child Adopted and opened for signature, ratification and accession by General Assembly resolution 44/25 of 20 November 1989. Aufrufbar unter: https://www.ohchr.org/en/professionalinterest/pages/crc.aspx.
[2] Auch wenn im deutschen Sprachgebrauch in diesem Falle von Kindern und Jugendlichen bzw. minderjährigen Jugendlichen gesprochen werden müsste, wird im vorliegenden Text aus Gründen der Lesbarkeit bis auf wenige ausdrückliche Ausnahmen der Begriff Kind oder Kinder verwandt.
[3] Vgl. Dominik Bär / Hendrik Cremer, Kinderrechte ins Grundgesetz. Kinder als Träger von Menschenrechten stärken, S. 1, Deutsches Institut für Menschenrechte, Position Nr. 7, Berlin, 2016.
[4] Lediglich die USA haben die UN-Kinderrechtskonvention nur gezeichnet, aber nicht ratifiziert. Hier scheitert es an der für die Ratifizierung notwendige Zustimmung durch das Parlament. Eine Übersicht aller Staaten, die die UN-KRK ratifiziert haben, ist abrufbar unter: https://indicators.ohchr.org/.
[5] Stefanie Schmal, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen. Handkommentar, S.5, Baden-Baden, 2013 und Hendrik Cremer, Die UN-Kinderrechtskonvention. Geltung und Anwendbarkeit in Deutschland nach Rücknahme der Vorbehalte, Deutsches Institut für Menschenrechte, 2. Auflage, Berlin, 2012.
[6] UN Committee on the Rights of the Child, General Comment No. 14 on the rights of the child to have her or his best interests taken as a primary consideration (art. 3 pra 1), UN Doc. CRC/C/GC/14, para. 43, Geneva 2013. In einer deutschen Übersetzung abrufbar unter: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Sonstiges/GC_14_barrierefrei_2019-04-26.pdf.
[7] Vgl. Lothar Krappmann, Die rechtliche Handlungsfähigkeit des Kindes – Die UN-Kinderrechtskonvention aus Sicht des Artikel 12 UN-BRK, S.133, in: Aichele, Valentin (Hg.), Das Menschenrechte auf gleiche Anerkennung vor dem Rechte. Artikel 12 der UN-Behindertenrechtskonvention. Baden-Baden, 2013.
[8] Vgl. Judith Feige/Stephan Gerbig, Das Kindeswohl neu denken. Kinderrechtebasierte Ermittlung des Kindeswohls, Deutsches Institut für Menschenrechte, Monitoring-Stelle UN-KRK, Information Nr. 30, S. 2, Berlin, 2019
[9] UN Committee on the Rights of the Child, General Comment No. 14, Ziffer 41.
[10] Vgl. Valentin Aichele, Eine Dekade UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 69. Jahrgang, 6-7/2019, S. 5, 4. Februar 2019.
[11] UN Committee on the Rights of the Child, General Comment No. 12 on the rights of the child to be heard, UN Doc. CRC/C/GC/12, para 26, 27, Geneva 2009. In einer deutschen Übersetzung abrufbar unter: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/show/allgemeine-bemerkung-nr-12-2009/
[12] Die Monitoring-Stelle hat zur Situation von Kindern mit einem inhaftierten Elternteil seit 2016 gearbeitet. Weitere Informationen dazu sind abrufbar unter: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/monitoring-stelle-un-krk/themen/kinder-von-inhaftierten/
[13] Vgl. Stellungnahme der Monitoring-Stelle UN-Kinderrechtskonvention „Kinderrechte ins Grundgesetz. Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes zur ausdrücklichen Verankerung der Kinderrechte“ 2019, abrufbar unter: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/show/kinderrechte-ins-grundgesetz-1/