Andrea Pingel, BAG Katholische Jugendsozialarbeit
In der Jugendphase entscheidet sich, ob jungen Menschen – auch oder gerade, wenn sie von einer Beeinträchtigung betroffen oder behindert sind – nachhaltig soziale Teilhabe im Bildungssystem, aber auch in der Freizeit und in der Arbeitswelt, beim Wohnen, im Sozialraum und der Zivilgesellschaft gleichberechtigt und barrierefrei ermöglicht wird. Nur dann kann Inklusion gelingen. Gerade für junge Menschen, die von Armut bedroht oder auf die Unterstützung der Kinder- und Jugendhilfe angewiesen sind bzw. waren, ist es von grundlegender Bedeutung, dass ihre soziale Teilhabe an den regulären Strukturen des Bildungssystem und der Erwerbsarbeit gesichert wird.
Nun hat die Diskussion um Teilhabe auch in Bezug auf die Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere im Rahmen der Diskussion um die inklusive Ausrichtung des SGB VIII, an Fahrt aufgenommen. Bislang war es eher der Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit „vorbehalten“, volle Teilhabe und umfassende Beteiligung für alle jungen Menschen zu fordern. Inzwischen zeichnet sich ab, dass ein Recht auf Teilhabe auch in den § 1 des SGB VIII aufgenommen werden soll. Allerdings wird in der Kinder- und Jugendhilfe der Teilhabebegriff häufig allein auf Kinder und Jugendliche mit Behinderung bezogen. Dies ist zwar sehr notwendig, aber eben auch nicht ausreichend, denn Behinderungen oder individuellen Beeinträchtigungen selber stehen oft weniger einer Teilhabe entgegen als die damit verbundene soziale Benachteiligung und Diskriminierung. Außerdem zeigen die Befunde aus unserem „Monitor Jugendarmut in Deutschland“ (BAG KJS 2018) deutlich, dass Armut für Jugendliche und junge Erwachsenen zwischen ca. 14 und 26 Jahren das größte Exklusionsrisiko bedeutet und einer vollständigen Teilhabe im Wege steht: Zuletzt lag die Armutsgefährdungsquote der 18- bis 24-Jährigen bei 26 %. Damit ist die Armutsgefährdung junger Menschen unter 25 Jahren seit 2011 (23,2 %) um 2,8 % angestiegen. Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre rangieren bei der Armutsgefährdung auf Platz zwei. Hinzu kommt eine Dunkelziffer von rund einer Million Kindern und Jugendlichen in Familien, die Anspruch auf Unterstützungsleitungen wie Hartz IV oder Wohngeld haben, aber deren Eltern aus unterschiedlichsten Gründen keine entsprechenden Anträge stellen.
Jugend ist nicht gleich Jugend – und endet nicht mit 18 Jahren!
2017 erschien der 15. Kinder- und Jugendbericht (KJB) der Bundesregierung unter dem Titel „Jugend ermöglichen“. Unmissverständlich stellt der Bericht heraus, dass im Alter zwischen 15 und 27 Jahren die zentralen Herausforderungen des Aufwachsens und des Erwachsenwerdens bewältigt werden müssen – der Bericht nennt sie die Verselbstständigung, die Qualifizierung und die Selbstpositionierung. Dabei stehen Jugendliche massiv unter Druck. Sie nehmen wahr, dass ihr Wert an ihrer Bildungsbiographie und ihrem Erfolg bemessen wird – und dass eigentlich nur noch das Abitur als guter Schulabschluss gilt. Auch die Zeit, sich auszuprobieren, die Welt zu erkunden und verschiedene Wege zu gehen, steht längst nicht allen Jugendlichen zur Verfügung. Wenn sie von Armut betroffen sind, müssen sie möglichst rasch den Schritt in das Erwachsenenleben schaffen und eigenes Geld verdienen.
Insbesondere im jungen Erwachsenalter entscheidet sich die gesellschaftliche Integration. Die Bildungskarriere wird abgeschlossen und in die berufliche Qualifikation überführt. Die Verselbständigung der jungen Menschen muss existenziell gesichert und soziale Positionierungen sowie Zugehörigkeiten gefunden werden. Häufig bricht aber die Unterstützung in der Kinder- und Jugendhilfe mit 18 Jahren ab. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen deutlich, dass junge Menschen, die durch unterschiedliche Formen der Hilfen zur Erziehung betreut wurden, eine erheblich verkürzte Jugendphase durchlaufen und ihnen im Vergleich zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in Familien aufwachsen, eine beschleunigte Verselbständigung abverlangt wird.[1]
Im Durchschnitt sind junge Menschen heute 20 Jahre alt, wenn sie eine Berufsausbildung beginnen. In dieser Phase, die auch durch zahlreiche Übergänge und teilweise prekäre Lebenslagen geprägt ist, brauchen viele junge Erwachsene Unterstützung, die ihnen ihr Elternhaus in der Regel nicht (mehr) geben kann. Darum richtet sich die Kinder- und Jugendhilfe im Prinzip an junge Menschen bis 27 Jahren. Faktisch ist es aber so:
- Junge Volljährige nehmen deutlich weniger Unterstützungsleistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch als Jugendliche, obwohl ihr Anspruch auf erzieherische Hilfen nicht mit der Volljährigkeit endet. Mit Vollendung des 18. Lebensjahres kommt es zu einer Zäsur bei der Inanspruchnahme erzieherischen Hilfen: von 779 auf 332 pro 10.000 bei den 18- bis unter 21-Jährigen sowie auf 33 bei den 21-Jährigen und Älteren. [2]
- 90 % der 18-Jährigen wohnen noch in ihrem Elternhaus und ziehen erst mit über 20 Jahren aus. Für die rund 180.000 Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe, darunter auch viele geflüchtete Jugendliche, ist die Situation ganz anders, denn mindestens 75 % müssen mit 18 Jahren die Einrichtung verlassen und ohne eine für das Alter adäquate Begleitung durch Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe auskommen. [3]
Teilhabe an Bildung und Ausbildung – Junge Menschen am Übergang in den Beruf sind besonders armutsgefährdet
Vor allem die berufliche (Aus-)Bildung im jungen Erwachsenenalter ist eine wichtige Basis für die soziale Teilhabe aller jungen Menschen. So ist es für die Verselbstständigung von jungen Erwachsenen entscheidend, wie der Übergang in die Arbeitswelt und die berufliche Ausbildung gelingt, zumal sich im biographischen Verlauf die Exklusionsrisiken im Bildungssystem immer weiter erhöhen.
Rein rechnerisch haben sich die Chancen für Ausbildungssuchende 2019 verbessert. Tatsächlich jedoch ist die Zahl unversorgter Bewerber*innen unterm Strich gestiegen: Das Nachsehen haben vor allem Jugendliche mit fehlenden oder einfachen Schulabschlüssen. Mehr als 52.000 Jugendliche haben 2017 die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen. Das sind 5000 mehr als noch zwei Jahre zuvor [4]. Hier nicht mitgerechnet ist die große Zahl von Kindern und Jugendlichen, die trotz Inklusionsverpflichtung auf Förderschulen keinen regulären Schulabschluss erwerben können - dies betrifft derzeit 70 Prozent der 350.000 Schüler*innen an Förderschulen. Fast chancenlos sind junge Menschen, die (noch) nicht in der Lage sind, eine Ausbildung alleine zu bewältigen.
261.800 junge Menschen, die ein Interesse an einer Berufsausbildung hatten, fanden im Ausbildungsjahr 2018/2019 keine Stelle. Das heißt mehr als die Hälfte aller an einer Ausbildung interessierten und bei der Arbeitsagentur gelisteten Jugendlichen ging leer aus. Bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle und damit der Grundlage für eine existenzsichernde Beschäftigung blieben im Endeffekt viel mehr junge Menschen auf der Strecke, als es angesichts der Zahl an unbesetzten Ausbildungsstellen und des viel beschworenen Fachkräftemangels auf den ersten Blick erscheint.
Derzeit haben mehr als zwei Millionen junge Menschen im Alter von 20 bis 34 Jahren keine abgeschlossene Berufsausbildung [5]. Damit sind 14,1 % der jungen Menschen ausbildungslos. Seit 2013 ist diese Quote kontinuierlich angestiegen.
Von einem chancengerechten Ausbildungsmarkt, der allen jungen Menschen eine qualifizierte Ausbildung und damit Armutsprävention ermöglicht, ist Deutschland noch weit entfernt. Daher fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) e. V. ein Recht auf Bildung, Ausbildung und Teilhabe.
Jugend ist also nicht gleich Jugend – insbesondere die Kinder- und Jugendhilfe (vgl. SGB VIII § 1) muss aber dazu beitragen, allen jungen Menschen eine Jugend zu ermöglichen, in der sie sich umfassend entwickeln, gute Bildungsabschlüsse erwerben, eigene Wege ausprobieren und erfolgreich in die Arbeitswelt einsteigen können. Insbesondere die Jugendsozialarbeit hat den Auftrag, junge Menschen vor Benachteiligung und Ausgrenzung zu schützen und sie auf ihrem Bildungsweg zu unterstützen [6].
Ausbildung und Teilhabe für alle jungen Menschen gelingt nur inklusiv und partizipativ!
Junge Menschen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind und/oder individuelle Beeinträchtigungen oder Behinderungen haben sind in erster Linie Jugendliche. Sie haben ein Recht auf vollständige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben!
Ein Gradmesser der vollständigen Teilhabe und der inklusiven Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe ist dabei auch immer die Frage nach der Partizipation und der Selbstbestimmung. Der Inklusionsprozess muss selbst partizipativ mit und von den jungen Menschen gestaltet wird – er bezieht sich auf Politik, Gesellschaft, Arbeitswelt und die Soziale Arbeit gleichermaßen.
Aber: Trotz des begonnen Dialogs um die inklusive Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe sowie eine umfassende Jugendstrategie der Bundesregierung: Es gibt derzeit keine systematische Debatte, die eine nachhaltige soziale, berufliche und existenzielle soziale Teilhabe der jungen Menschen bis zum 27. Lebensjahr absichert. Deshalb fordert die BAG KJS eine Sozial- und Jugendpolitik, die allen jungen Menschen „Jugend ermöglicht“ und ihnen einen guten Weg in das Erwachsenenleben ebnet; unabhängig von der sozialen Herkunft, der finanziellen Situation der Eltern oder dem familiären Bildungsstatus. Die soziokulturelle Teilhabe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist unabhängig vom Einkommen der Eltern zu fördern und abzusichern. Wo existenzielle Fragen nicht gelöst sind, besteht kein Raum, um Bildungswege zu planen oder berufliche Perspektiven zu entwickeln.
https://www.bagkjs.de/