Die neuen deutschen organisationen – das postmigrantische netzwerk e.V. (ndo) haben 2021 erstmalig einen bundesweiten Jugendkongress durchgeführt. Welche Visionen haben die jungen Teilnehmenden dort erarbeitet?
Es ging bei unserem Jugendkongress zunächst darum, einen Raum zu schaffen für Jugendliche und junge Erwachsene, die Rassismuserfahrungen machen. Seit 2015 veranstalten die ndo jährlich einen Bundeskongress, bei dem sich Menschen aus dem Netzwerk, Verbündete und Personen des öffentlichen Lebens begegnen und austauschen. Mit jedem Jahr haben immer mehr junge Menschen teilgenommen. Sie haben das Bedürfnis geäußert, einen eigenen Raum zu bekommen, in dem es ausschließlich um ihre spezifischen Bedürfnisse geht. Darin wollten sie Gleichaltrige und bekannte Persönlichkeiten kennenlernen und mit verschiedenen Formaten, z.B. mit Theater, Rap und Diskussionen in zugänglicherer Sprache Themen bearbeiten, die sie interessieren und betreffen. Aufgrund der Corona-Situation hat der Jugendkongress in einem hybriden Format stattgefunden. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus den Jugendgruppen Wir sind hier! des Vereins RomaTrial, von Curly Culture und von sons of gastarbeita trafen sich jeweils in Berlin, Dresden und Hagen und kamen digital mit allen zusammen. 2021 fand zum ersten Mal der Bundesjugendkongress der neuen deutschen organisationen mit dem Titel connect.empower.act statt. In diesem Video gibt es einen kleinen Einblick: hier.
Das Programm des Jugendkongresses selbst sollte schon die Visionen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen von einem solchen Kongress widerspiegeln, die sie uns vorher mitgeteilt hatten. So waren sie von Anfang an Mitgestaltende. Sie entwarfen durch Gespräche und Workshops eine Vision von einer solidarischen, chancengerechten Gesellschaft. Durch ihr Zusammenkommen erlebten sie, dass sie nicht alleine sind. Nach dem langen Lockdown, in dem sie viel Zeit ohne ihre Freund*innen verbringen mussten und das nach den Anschlägen in Hanau, war es wichtig, einen Raum zu bekommen, in dem sie auch darüber sprechen konnten, wie sie diese Zeit erlebt haben und damit umgehen. Sie ermutigten sich gegenseitig zu gemeinsamen Anstrengungen gegen Rassismus und Diskriminierung. Sehr klar formulierten sie die Forderung nach mehr solcher Räume. Sie wollen als junge Menschen mit Rassismuserfahrung in der Politik und Gesellschaft gehört, anerkannt und repräsentiert werden.
Die Unterrepräsentanz junger Menschen mit Migrationshintergrund im politischen Raum ist ein großer Missstand. Welche Strategien gibt es gegen diese strukturellen Benachteiligungen?
Wir sprechen eher von (jungen) Schwarzen Menschen und People of Color oder (jungen) Menschen mit Rassismuserfahrung, da sie direkt von rassistischer Diskriminierung betroffen sind, was nicht für alle Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund gilt. Wir beobachten, dass Politiker*innen die Ängste und Sorgen von (jungen) Schwarzen Menschen und People of Color (BPoC) konsequent übergehen. Zudem konnten rund 10 Millionen Menschen bei den letzten Bundestagswahlen nicht wählen, weil sie nicht stimmberechtigt sind. Sie sind außerdem kaum in der Politik vertreten. Diese Unterrepräsentation ist ein schwerwiegendes Problem für unsere Demokratie. Deshalb stellen wir klare politische Forderungen. Wir brauchen ein Bundespartizipations- und Teilhabegesetz sowie ein Bundesantidiskriminierungsgesetz. Als Netzwerk von rund 150 postmigrantischen Selbstorganisationen machen wir uns dafür in der Öffentlichkeit und in verschiedenen Gremien stark. Mit Veranstaltungen, Pressegesprächen, Pressemitteilungen und Positionspapieren machen wir unsere Standpunkte deutlich und bringen uns in Debatten ein.
Welche Anregungen bekommen Sie von Jugendlichen für Ihre Arbeit in der Erwachsenenorganisation?
Der Jugendkongress, den wir dieses Jahr organisiert haben, war ein Wunsch von Jugendlichen aus unserem Netzwerk selbst. Wir lernen dazu und wollen Jugendliche und junge Erwachsene noch mehr ansprechen und einbeziehen. Die Jugendlichen, Jugendinitiativen und Vereine mit denen wir zusammenarbeiten, haben ein ausgeprägtes Verständnis von den Ungleichheitsverhältnissen in der Gesellschaft und sie wollen mitreden und -gestalten. Das sollen sie auch. Das motiviert uns, Formate und Angebote zu entwickeln, die sie ansprechen, die ihnen Raum und Sichtbarkeit geben und für sie relevant sind, bei denen sie eingebunden werden. Wir müssen sie als Expert*innen ernst nehmen. Sie sind aktuell in diskriminierenden Strukturen wie dem Bildungssystem und fordern eine Veränderung. Wir wollen ihren Forderungen mit ihnen gemeinsam Gehör verschaffen und auf Veränderung hinarbeiten.
Was können andere Organisationen der Zivilgesellschaft tun, um die strukturellen Ausschlüsse und Benachteiligungen von (jungen) Menschen mit Rassismuserfahrung zu bekämpfen?
Wir leben in einer postmigrantischen Gesellschaft. Doch das spiegelt sich nicht in allen Bereichen der Gesellschaft wider. Alle Organisationen können zunächst bei sich selbst anfangen, indem sie ernsthaft reflektieren: Wer wird eigentlich bei uns ausgeschlossen, wer wird nicht mitgedacht, wer hat bei uns schlechtere Chancen? Das sollte dann nicht beim Reflektieren bleiben, sondern auch zu Konsequenzen führen, sowohl strukturell als auch personell und in Bezug auf die Angebote. Das sind nicht immer leichte Prozesse, aber sie sind notwendig. Zivilgesellschaftliche Organisationen sollten gesellschaftliche Ausschlüsse thematisieren und Veränderung fordern. In ihren Angeboten sollten sie Hürden für die Teilnahme und Teilhabe abbauen, neue Wege finden, um Personen zu erreichen, die sie vielleicht vorher nicht eingebunden haben und explizit Räume für marginalisierte Menschen schaffen. Dazu gehört eine rassismuskritische, diversitätssensible Arbeit und die Bereitschaft zuzuhören und zu lernen.
Die ndo hat ein Manifest für ein plurales, postmigrantisches Deutschland veröffentlicht. Welche Erwartungen haben Sie mit Blick auf Jugendliche und junge Erwachsene an die neue Bundesregierung?
Das Manifest entstand auf unserem 6. Bundeskongress einen Tag nach dem rassistischen Terroranschlag in Hanau. Die entschiedene Bekämpfung von Rechtsextremismus, die Aufklärung und die Verhinderung von rechtem Terror und die Verbreitung von Rassismus und Antisemitismus müssen angegangen werden. Die neue Bundesregierung muss den Forderungen von Bewegungen wie Black Lives Matter und der Initiative 19. Februar Hanau nachkommen.
Auch Chancengerechtigkeit und radikale Reformen im Bildungssystem gehören zu unseren Kernforderungen. Die designierten Koalitionspartner*innen haben sich Chancengerechtigkeit vorgenommen. Wir fordern von der neuen Bundesregierung, dass sie dies auch konsequent umsetzt. Die Corona-Krise hat die Versäumnisse zum Beispiel im Bereich Bildung deutlich gemacht und die Ungleichheit verstärkt. Zu Chancengerechtigkeit gehört auch ein effektiver Diskriminierungsschutz im Bildungsbereich. Wir fordern unabhängige Informations- und Beschwerdestellen an Schulen für Fälle von Diskriminierung und Antidiskriminierungsbeauftragte auf Landes- und Bundesebene. Lehrpläne müssen die Geschichte des Einwanderungslandes, Kolonialismus, Rassismus und Antisemitismus beinhalten.
Dafür sollten junge Menschen, insbesondere junge Migrant*innen, Schwarze Menschen, jüdische und muslimische Menschen, Rom*nja, Sinti*zze und People of Color mit ihren Erfahrungen und Bedarfen in Entscheidungen einbezogen werden.
Informationen zu den beteiligten Jugendgruppen und zum Jugendkongress
- Bundesjugendkongress
- Wir sind hier! des Vereins RomaTrial http://romatrial.org/projekte/wir-sind-hier/.
- Curly Culture https://www.facebook.com/CurlyCulture.
- sons of gastarbeita https://de-de.facebook.com/SonsOfGastarbeita.
Zur Person
Nuriani Hamdan ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei den neuen deutschen organisationen - das postmigrantische Netzwerk e.V. - zur Webseite von ndo.
Das Interview wurde von jugendgerecht.de im Rahmen der Publikation "Notwendig und vielfältig: Schlaglichter auf die Eigenständige Jugendpolitik" geführt und veröffentlicht.
November 2021